13. Wassereinbruch
"Wo?" frage ich, "Geben Sie mir die Sektoren!"
"Gleich!" ruft er, "ich muß erst der Straub Bescheid sagen, weil ..."
"Mein Gott," schreie ich, "wo waren Sie denn in den letzten Tagen? Ich bin Schichtleiter, die Straub ist doch nicht dienstfähig!"
Er guckt wie ein Schaf.
"Ach so. Ja, natürlich. Also: Sektoren - unklar, die Meldungen kommen aus B4, B6, C7, C8, D10, und dann ist da noch eine zweite Gruppe in D16, C18 und B19. Overload-Meldungen kommen aus allen angrenzenden Sektoren. Unbeschädigt sind nur ..."
"Ja, ich sehe." unterbreche ich. Ich visualisiere das Muster der Beschädigungen. Mit einem Sprung bin ich am Kontrollsessel. Der Kurvenradius ist zu scharf, das ist es. Es ist unglaublich - man sieht und spürt nichts von der Kurve, aber irgendeine Regelung, irgendein Algorithmus hat nicht mehr mitgespielt.
"Was soll ich tun?" ruft der junge Mann.
"Stellen Sie fest, wie schwer die Beschädigungen sind, und sagen Sie es mir dann. Und wecken Sie die Tagesschicht. Achten Sie nicht auf Entschuldigungen. Ich möchte die gesamte Leitwartenbesatzung, Zentrale sowie Turm, in der Leitwarte haben. Außerdem wecken Sie den Stadtkommandanten."
"Und was soll ich sagen?"
Das Alarmhorn schreit wieder auf. Ich habe die Voreinstellung für den Kurvenradius wieder verändert, aber es wirkt sich nicht so schnell aus.
"Was wollen Sie wem sagen?"
"Dem Stadtkommandanten, was soll ich ihm sagen, wenn ich ihn wecke?"
"Daß die Kacke am Dampfen ist! - Welche Sektoren sind jetzt hinzugekommen?"
"D17, B17 und B18. Sofort." Das Visiophon wird dunkel. Der junge Mann scheint mir noch nicht katastrophenerprobt. Aber bin ich es? Jemand hat mal von mir gesagt, daß, wenn meine Wortwahl zunehmend ordinär wird, bei mir zwar schon die Katastrophenwahrnehmung eingeschaltet ist, aber noch nicht unbedingt die Katastrophenbewältigung. Aber wie kann man das wissen? Ich habe noch nie eine Katastrophe erlebt.
Offenbar verträgt die Stadt nicht mehr zu scharf gefahrene Kurven. Eine zu flache Kurve zu fahren ist jedoch auch nicht angeraten - dann steht uns über kurz oder lang nämlich Norwegen im Wege. Und die Vortriebsmaschinen zu drosseln, haben wir ja auch noch keinen gangbaren Weg gefunden.
Ich rufe das Situation Board auf. Aber die Angabe, daß immer noch pro Sekunde 1250 Tonnen Wasser in die Auftriebszellen einlaufen, scheint mit der zusätzlichen Wasseraufnahme durch mögliche Lecks nichts zu tun zu haben. Wie kriegt man jetzt raus, wie groß die zusätzliche Leckrate ist? Diese Software scheint stillschweigend davon auszugehen, daß die Stadt unbeschädigt ist. Unten, in der Leitwarte, gibt es andere Instrumente, vielleicht kann man da mehr in Erfahrung bringen.
Ich blicke mich um. In den letzten Minuten hat sich nichts verändert, gar nichts! Die Stadt zittert nicht, das Alarmhorn schweigt und hat nur eine Spur in dem Adrenalinspiegel meines Blutes hinterlassen. Ist es wirklich so schlimm? Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Korridore weiter Wohngebiete, in denen ein Strom schmutzigen Wassers entlangschießt, Gerümpel und Menschen gleichermaßen vor sich herschiebend. Und dann geht das Licht aus, und diese Menschen finden im Dunkeln nicht einmal den nächstliegenden Aufgang. Ist es das? Passiert genau das jetzt, zu diesem Zeitpunkt, irgendwo da unten? Was soll ich tun? Stadtalarm geben und die ganze Stadt aus den Federn scheuchen? Was aber, wenn zwar Lecks in vielen Sektoren aufgetreten, diese Lecks jedoch sehr klein und unwichtig sind, so daß sie in der Zeit, die der Stadt noch bleibt, sowieso keinen Schaden anrichten können? Bei Stadtalarm gibt es immer ein paar Verletzte, aus irgendwelchen banalen Gründen, und sei es, daß einer beim Aufstehen ausrutscht und hinfällt, oder sich ungewohnterweise im Laufschritt bewegt und mit jemandem zusammenstößt. Die meisten Menschen können ja in ungewohnten Situationen ihre Glieder nicht gebrauchen. - Nein, Stadtalarm kommt nicht in Frage, nicht auf die Vermutung hin, er könne nützlich sein.
Ich hänge mich wieder ans Visiophon. Ich will Rodrigo sprechen, und Paul.
Paul schläft noch. Es erleichtert irgendwie, denn wenn sich die ganze Stadt in ihren Fugen winden würde, dann hätte er etwas gemerkt.
"Gottseidank daß du da bist, Paul, ich wollte ..." Das Bild verwischt sich, und das Gesicht Cammarotos taucht auf dem Bildschirm auf. Crash-priority-overide-connection vermutlich.
"Wie ist die Manöversituation?"
"Ich bin dabei, die Richtungsänderung abzuflachen."
"Wieviel hatten Sie?"
"0.85 Grad pro Minute."
"Und jetzt?"
"Eingestellt sind jetzt 0.15 Grad pro Minute. Das haben wir schon in den letzten Tagen ausprobiert. Weniger geht nicht weil ..."
"Klar." Cammaroto verschwindet, und Paul erscheint wieder. Er hat sich in den wenigen Sekunden, die Cammaroto die Verbindung an sich gerissen hat, angekleidet.
"Und?" fragt er.
"Wasser! Wassereinbruch. Überall."
"Hat es was mit ..."
"Weiß ich nicht."
"Ich komme sofort." Und schon verblaßt das Bild.
Ich vermute, es hat etwas mit dem Rechner zu tun. Alles, was in dieser Stadt schief geht, hat ja etwas mit dem Rechner zu tun. Lastausgleich der Vortriebsmaschinen geht nur in gewissen Grenzen. Die einen werden rauf- und die anderen werden runtergefahren. Für die scharfe Kurvenfahrt von eben gab es wahrscheinlich Vortriebsmaschinen, die mehr Energie brauchten als die zugeordneten Reaktoren ihnen liefern konnten. Ich hätte es wissen müssen. Bloß um einen großen Abstand zum Festland von Norwegen zu halten, war eine Haarnadelkurve doch nicht nötig. Joycelyn, da hast du eine Dummheit gemacht. Rede dich nicht damit heraus, daß Cammaroto gestern dem Plan zugestimmt hat. Von Zahlen und Kurvenradien war nicht die Rede. Du hast den Grad der Richtungsänderung festgelegt, du allein. Du mußtest wissen, daß der Stadtrechner nicht mehr unbedingt in der Lage ist, gefährliche Manöver zu korrigieren oder auch nur zu warnen.
Und jetzt hast du Löcher in der Stadt.
Wenig später ruft die Leitwarte wieder an. Sie haben etwas mehr rausgekriegt, was die Schäden betrifft.
Tatsächlich sind die meisten Lecks Bagatellen, die in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht genug Wasser durchlassen, um wesentliche Schäden zu verursachen. Es handelt sich um aufgeplatzte Schweißnähte und abgesprengte Bolzen. Eben die Schäden, die man bei großräumigem Verwinden der Stadt, das durch Scherkräfte bedingt ist, erwarten würde.
Ein Leck jedoch, in C7, ist eine ausgedehnte Angelegenheit. Da hat es große Bodenplatten des Stadtbodens hochgedrückt, und sternförmig von dort ausgehend gibt es Risse bis in viele hundert Meter Entfernung. Die Wassermenge, die dort einläuft, wird auf wenigstens einige hundert Tonnen pro Sekunde geschätzt, wahrscheinlich ist es mehr. An die Schadstellen selbst kommt man deshalb nicht mehr heran.
Man ist dabei, den Sektor von Menschen zu evakuieren. Es sind im wesentlichen Maschinenräume, und es ist möglich, das ganze Gebiet abzuschotten. Mehr als ein zehntel Quadratkilometer ist nicht betroffen.
Aber das, weiß ich, ist zuviel. Wenn ein zehntel Quadratkilometer der Stadt seinen Auftrieb völlig verliert, dann sind die Randgebiete dieses Stadtteils so starken vertikalen mechanischen Scherbelastungen ausgesetzt, daß es dort zu neuen Schäden und Lecks kommen wird. Die Ausbreitung dieses abgesoffenen Gebietes läßt sich auf die Dauer nicht verhindern, selbst, wenn man dem noch eine Weile mit Pumpen gegenarbeitet.
Doch die Lage ist noch schlimmer: In dem betroffenen Gebiet steht einer der Reaktoren für die Vortriebsmaschinen. Der wird durch das Seewasser entweder zerstört oder nur am effektiven Arbeiten gehindert. Schließlich kann Seewasser offene, spannungsführende Metallteile sehr gut kurzschließen, und sogar eine so starke Kühlung von Primär- und Sekundärkreislauf ist denkbar, daß die Leistung des Reaktors allein dadurch einen deutlichen Einbruch erleidet.
Dann aber haben die diesem Reaktor zugeordneten Vortriebsmaschinen nicht mehr genügend Strom. Statt selbst die Stadt mit anzutreiben würden die großen Schrauben passiv gedreht werden. Dieser zusätzliche Fahrtwiderstand würde die Stadtkonstruktion an dieser Stelle noch mehr belasten, und zwar um so mehr, je schneller wir fahren. Eine Regelung dieser betroffenen Vortriebsmaschinen wäre nicht mehr möglich.
Das heißt, daß ein weiteres Aufreißen der Stadt in jenem Sektor unvermeidlich ist. Und ich weiß auch, daß es schnell gehen wird.
Noch bevor Cammaroto sich wieder an mich wendet, weiß ich, welchen Vorschlag ich machen werde, wenn er ihn nicht macht:
Wir müssen die nächstliegende Flachküste ansteuern - wahrscheinlich Nordwest-Jütland - und dort die Stadt auf Grund setzen. Wir haben keine Wahl mehr.
Die Stadt ist verloren. Jetzt müssen wir sehen, daß wir wenigstens die Menschen retten.
Joycelyn, halte durch. Denk nicht über Schuld oder Nicht-Schuld nach. Dazu hast du genug Zeit, wenn alle die Stadt verlassen haben. In zwei Tagen, spätestens in dreien. Dann weißt du, wie es ausgegangen ist. Wenn du dann noch lebst.
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