10. Besprechung und Beförderung
Schon bald nach dem Gespräch mit der Leitwarte - es war dort genauso, wie ich es vermutet hatte, und sie hatten angerufen mit der Frage, die sie fast gar nicht zu stellen wagten, ob ich etwa irgendetwas von einem bevorstehenden Untergang der Stadt wüßte - tauchten immer mehr Leute auf. Der Stadtkommandant Benjamin Cammaroto war zwanzig Minuten nach diesem Gespräch da. Er ist etwas über sechzig und hat die Stadt im nautischen und technischen Dienst schon länger als ein Vierteljahrhundert geführt. Seine weißen Haare können kaum die Fitness verbergen, die er immer noch ausstrahlt, und auch jetzt bewegt er sich immer noch energischer und schneller als mancher, der nur halb so alt ist. Ich hoffe, daß ich den Grad an körperlicher und geistiger Fitness in zwanzig Jahren auch noch habe.
Er hätte es in früheren Jahren noch weiter bringen und heute eine Position hoch in der Hierarchie der WBK haben können. Man ist sich ziemlich einig darüber, daß er das absichtlich vermieden hat, aber er selbst hat sich meines Wissens nie darüber geäußert. Die Stadt liegt ihm ehrlich am Herzen, und der damit verbundene Aufenthalt auf der Erde natürlich sowieso. Ich kann ihn mir unter den trägen Verwaltungsbonzen der WBK auch gar nicht vorstellen.
Ich hatte viel zu tun. Zuerst mußte ich klarstellen, daß die Gefahr real war, aber daß nichts in den nächsten Minuten passieren würde. Seltsam, wie oft man in einer chaotischen Versammlung dasselbe immer wieder erzählen muß, bis in etwa alle Bescheid wissen.
Cammaroto klärte ich über das wichtigste in wenigen Sätzen auf. Nachdem er verstanden hatte, worum es ging, und er verstand schnell, traf er eine Auswahl unter den Anwesenden. Die anderen mußten gehen. Es wurde einfach zu voll. Und wir mußten eine effektive Versammlung abhalten. Rodrigo schaltete eine direkte Leitung in die Leitwarte. Niemand dachte an Geheimhaltung - an so kindische Dinge hätte man im zwanzigsten Jahrhundert gedacht, um die eventuellen Fehlentscheidungen handelnder Politiker zu vertuschen. Es ist erstaunlich, wie selten man auf Situationen trifft, wo das Prinzip Geheimhaltung wirklich notwendig ist - meistens ist es dem Ergebnis abträglich. Das Licht der Wahrheit muß überall hinleuchten, und je mehr Scheiße dabei beleuchtet wird, umso besser. Deshalb waren auch Journalisten anwesend. Ich fand mich, das erste Mal in meinem Leben, von mehreren Fernsehkameras beäugt. Die Übertragung war life. Die Leute bekamen was geboten, am Freitagmorgen zum späten Frühstück!
Ich wiederholte, was wir bereits wußten. Was den datentechnischen Teil betraf, konnte ich mich nicht genau genug ausdrücken - den Teil der Darstellung übernahm Miesner. Paul Miesner, wie ich inzwischen herausgefunden hatte.
Ich mußte einige peinliche Fragen über mich ergehen lassen, weil ich die Vortriebsmaschinen angeschaltet hatte, obwohl die Reaktoren zu dem Zeitpunkt noch keinen Strom lieferten. Schließlich wäre es ohne das wahrscheinlich nicht zu dieser Krise gekommen.
Aber Paul Miesner half mir über dieses unschöne Thema hinweg. Wenn man zwei Schalter habe, und man könne diese beiden Schalter in einem zeitlichen Abstand von einer Sekunde oder auch einer Stunde betätigen, ohne daß technische Gründe für das eine und gegen das andere sprächen, dann könne man der Betätigerin dieser Schalter keinen Vorwurf daraus machen, wenn da noch irgendein Programm sei, das fehlerhaft ist und deshalb auf den kurzen zeitlichen Abstand pathologisch reagiere.
Ich muß schon sagen, eine vernünftige Erklärung, nicht nur, weil sie mich entlastete. Aber ich mache mir keine Illusionen - was auch passiert, ich werde die bleiben, die die Hebel umgelegt hat, die die Katastrophe herbeigeführt haben.
Viele Fragen zeugen davon, daß nicht alles beim ersten Male verstanden wurde. Etwa "Wie lange dauert es denn noch ganz genau?" Cammaroto beantwortet diese Frage. Er kennt sich gut mit der Stadt und ihren technischen Aspekten aus, und er gelangt zu der gleichen Antwort wie ich heute morgen. Ich habe den Eindruck, daß er das auf die Frage hin life im Kopf ausrechnet. Das kann ich zwar auch, aber ich habe zum Beispiel die Frau Straub vor Augen, die da durchaus ihre Schwierigkeiten hätte. - Die würde höchstens wie aus der Pistole geschossen auf Fragen antworten können wie etwa wer in der Hierarchie wann was geworden ist und warum derjenige das ihrer Meinung nach nicht verdient hat.
Ebenso müssen wir das Thema 'Evakuierung' noch einmal durchkauen. Die meisten Leute können offenbar keine Dreisatzrechnung. Und ebenso erstaunlich ist es, daß es Leute gibt, die glauben, man könne bei diesem Wetter mit einem Wasserflugzeug etwas anfangen, oder man hätte in einem Schlauchboot bessere Chancen als in der Stadt. In einem Schlauchboot auf dem Nordatlantik, auf dem es, außer der Stadt, kein einziges Schiff mehr gibt, in einem Wetter, das heute normal ist, aber im zwanzigsten Jahrhundert ein Ausnahmefall gewesen wäre. Lächerlich!
Es findet auch eine kurze Rückfrage beim meteorologischen Dienst statt. Das gegenwärtige Wetter wird noch drei Tage anhalten, gleich danach kommt aber schon nach kurzer Wetterberuhigung die nächste Zyklone, fünf weitere Tage später die übernächste. Lange Wetterberuhigungsperioden wird es also für uns nicht mehr geben. Lange Wetterberuhigungsperioden gibt es eigentlich nirgends auf der Erde mehr.
Cammaroto stellt klar, daß zwölf Tage lang innerhalb der Stadt überhaupt keine Veränderung spürbar sein wird - nur bei einem Spaziergang an der Stadtkante kann man das fortschreitende Absinken der Stadt verfolgen. Dann aber werden die Beschädigungen beginnen und innerhalb eines Tages zum Versinken der Stadt führen.
Bis zu diesem Zeitpunkt, sagt er, legt die Stadt bei ihrer gegenwärtigen Maximalgeschwindigkeit elftausend Kilometer zurück. Da man auf die Fahrtrichtung noch Einfluß hat - die Stadt ist steuerbar wie eh und jeh - kann man sich wenigstens aussuchen, wo die Stadt ihr Ende finden wird. Wenn man diesen Ort geschickt genug auswählt, dann können mit etwas Umsicht alle gerettet werden.
Soweit habe ich noch nicht gedacht. Aber es stimmt. Mir drängt sich auch sogleich eine Vorstellung davon auf, wie man es am geschicktesten machen könnte. Eine hinreichend flache Küste, wo man die Stadt auflaufen läßt. Das sollte machbar sein. Die Stadt würde absaufen, sich damit restlos festsetzen, und von dem Teil, der aus dem Wasser ragt und auf den sich die ganze Bevölkerung gerettet haben müßte, könnte man in Ruhe die Rettung auf das nahe Land organisieren. Die wenigen Boote, die wir zur Verfügung haben, würden genügen, weil wir mehr Zeit hätten. Warum habe ich nicht selbst daran gedacht? Die Antwort ist ganz klar: Ich denke immer noch in Kategorien, die die Rettung der Stadt selbst einschließen.
So, wie ich Cammaroto einschätze, hat er auch, für diesen letzten Ausweg, eine ganz bestimmte Küste im Auge. Ich überlege mir, welche das sein könnte. Aber im Moment spricht er nicht mehr darüber. Er teilt gezielt Arbeitsgruppen ein. Die manuelle Sperrung der Ventile für die Auftriebszellen muß wenigstens genau untersucht werden, damit es nachher nicht heißt, man hätte etwas unversucht gelassen. Paul Miesner muß, was nicht anders zu erwarten war, am laufenden Stadtrechner arbeiten.
Dann bringt jemand Cammaroto einen Zettel. Er liest ihn und wendet sich dann an mich. Warum ist es jetzt so leise im Raum? Alle Kameras sind wieder auf mich gerichtet.
"War die Schichtleiterin vorhin nicht hier, die Frau Straub?" fragt er.
"Ja."
"Und warum ist sie wieder gegangen? Ich meine, ist sie nicht über die Lage informiert worden?"
"Sie ist informiert worden." sage ich. Stimmt ja auch.
"Und?"
"Dann ist sie gegangen."
"Einfach so?"
"Einfach so."
"Mmh." Cammaroto sieht wieder auf den Zettel.
"Frau Pemberton, ich möchte nachher noch mit Ihnen sprechen."
Die Versammlung fährt fort, doch ich kann mich kaum konzentrieren. Was hat sich die Straub denn jetzt wieder an Scheußlichkeiten ausgedacht? Als die Diskussionsführung unkonzentriert wird, und als alle notwendigen Entscheidungen getroffen worden sind, verlaufen sich die ersten Anwesenden. Paul tritt an meine Seite:
"Joycelyn, ich glaube, wir haben deine Vorgesetzte doch zu hart angefaßt."
"Wieso?"
"Sie hat einen Selbstmordversuch unternommen, in ihrem Apartment. Der Bereitschaftsdienst hat sie gefunden, als die Leitwarte sie nicht erreichte."
"Oh Gott. Ist sie tot?"
"Noch nicht. Sie hat -" Paul ist fast grün im Gesicht, "- sich mit dem Hals so in eine Doppeltür hineingeworfen, daß ihre Schultern die beiden Türflügel zugedrückt haben. Der Kopf ist fast abgetrennt. Sie liegt schon auf der Unfallchirurgie."
"Großer Gott. Wie kann man auf diese Weise Selbstmord begehen?"
"Ich weiß nicht. Man muß wohl sehr entschlossen sein. Oder - die meisten Leute verstehen ja so wenig von Medizin - ihr ist nichts anderes eingefallen. Oder, im Prinzip jedenfalls, könnte es auch ein Unfall gewesen sein."
"Es tut mir leid." Tut es wirklich, ich sage das nicht nur so.
"Wieso? Hat sie es nicht verdient?"
"Doch. Tausendmal. Aber das ist mein Bier, was immer ich ihr an den Hals gewünscht habe. Ob sie es objektiv verdient hat, weiß ich nicht. Jedenfalls nicht auf diese Weise. Sie ist - sie ist der falsche Mensch am falschen Platz. Manche Menschen haben eben die falschen Konzepte, mit der Wirklichkeit umzugehen. Und Mitarbeiter fertigzumachen, auf die eigene Vorgesetztenrolle zu pochen und generell mehr zu sein scheinen als man ist, das ist ein sehr falsches Konzept. Aber vielleicht muß es solche Menschen geben. Vielleicht ist auch jedes abschreckende Beispiel irgendwo ein Fortschritt."
"Aber für dich bedeutet es doch Beförderung. Selbst, wenn sie durchkommt. Bei dieser Verletzung wird etwas zurückbleiben. Und mit einem versuchten Selbstmord kann man die eigene Karriere ja ganz gut ruinieren. Du wirst die neue Schichtleiterin. Und du wirst die Einsatzleitung für unser vorliegendes Problem bekommen."
"War die Straub denn dafür vorgesehen?"
"War vorgesehen. Ich glaube, Cammaroto hätte sich dabei gar nicht wohl gefühlt, dieser Frau den Vorsitz über das Team zu geben. Irgendwie ließ es sich hierarchiemäßig nicht ganz vermeiden - in diesen Dingen sind sie manchmal etwas unflexibel, unsere Häuptlinge. Stadtmäßig ist er wohl erleichtert, daß es so gekommen ist. Er weiß wohl auch einiges über diese Frau. Aber er wird dich wohl noch genauer befragen wollen."
Paul macht sich dann gleich auf den Weg ins Stadtrechenzentrum. Er hat noch viel zu tun. Außerdem hat er die Straub ja erst vor wenigen Stunden kennengelernt. Er wird sie rasch vergessen. So, wie man jemanden vergißt, der einem in einer Menschenmenge versehentlich auf die Füße tritt.
Aber ich vergesse sie wohl nicht so schnell. In diesem Moment, wo sie mir nicht mehr schaden oder auf die Nerven gehen kann, ist sie plötzlich als Gegner unwichtig geworden. Man merkt, wieviel Energie man mit diesem täglichen Kleinkrieg verschwendet hat, die zu anderen Dingen besser hätte genutzt werden können. Und was heißt überhaupt Gegner - einen ideologischen Gegensatz gab es in diesem Sinne ja auch gar nicht. Hätte es einen gegeben, dann hätte es in diesem täglichen Kleinkrieg ja konkrete Ansatzpunkte zur Konfliktlösung gegeben.
Zurück bleibt ein 'basket case'. Ein wehrloses Bündel Mensch, hilfloser als ein Kind. Was mag in diesem Kopf jetzt vorgehen? Wenn das Gehirn nicht durch vorübergehenden Sauerstoffmangel irreversiblen Schaden erlitten hat, dann erleidet die Straub jetzt eine Hölle, die ich ihr zu keinem Zeitpunkt gewünscht habe. Sie war ja kein abgrundschlechter Mensch. Natürlich hätte ich sie oft genug am liebsten verprügelt. Die Handlungsmuster, die unser Zwischenhirn zur Bewältigung solcher Konflikte bereithält, sind eben so. Und vielleicht hätte sogar diese primitive Reaktion ihr einmal Grenzen gezeigt. Prügel als Therapie. Bei einem Kind erhöht ein gelegentlicher Klaps auf das Achterdeck ja auch den Sinn für Realität. Aber dies? Nein.
Und dann habe ich ja vielleicht noch im Unterbewußtsein gehofft, daß die Straub formale Vorsitzende des Krisenstabes wird. Wenn wir es nicht geschafft hätten, die Stadt zu retten, dann hätten wir wenigstens einen Sündenbock gehabt. Sie hätte in dieser Funktion bestimmt Blödsinn angestellt. Wir hätten 'genüßlich' zusehen können, wie sie jede Chance einer Rettung der Stadt versiebt.
Und dieses gereicht mir selbst wohl kaum zur Ehre: Wohl wissend, daß die Chancen der Stadt durch eine Krisenstabsvorsitzende Straub sich verschlechtert hätten, habe ich doch gewünscht, diese Verantwortung nicht tragen zu müssen. Um mich selber reinzuhalten, habe ich diese Verantwortung bei der Straub lassen wollen.
Gib dir das zu, Joycelyn. Gib du es wenigstens zu. Wahrhaftigkeit vor dir selbst. Jetzt hat Cammaroto dich zur zweiten Frau im Staate gemacht. Du wirst Einfluß darauf haben, ob die Stadt lebt oder nicht. Es fragt dich niemand mehr, ob dir das gefällt. Wo steht denn auch geschrieben, daß der Kampf ums Überleben und das mögliche Verlieren dieses Kampfes Spaß machen soll?
Vielleicht, Joycelyn, hat Rodrigo dir die erste Möglichkeit eines schweren Fehlers schon durch sein forsches Auftreten abgenommen. Hättest du die Straub verscheucht, wenn er es nicht getan hätte? War das noch eine gnädige Warnung des Schicksals? Jetzt mußt du selber anfangen, richtig zu handeln. Letzten Endes ist der Kampf um das Überleben immer eine Privatsache, und nur sehr selten kommt Hilfe von woanders.
Und deshalb, Joycelyn, wirst du dich jetzt diesem Kampfe vorbehaltlos stellen. Dem Kampf selbst, und der Möglichkeit, zu versagen, vielleicht vor den Augen aller 1.25 Millionen Stadtbewohner. Überleben, das ist das Designprinzip des Menschen. Etwas anderes hat die Evolution sich nicht ausgedacht und nicht beabsichtigt. Mach es, Joycelyn, versuche es wenigstens, und schäme dich keinen Augenblick, wenn es nicht gelingt. Es ist nicht einmal eine Niederlage. Es gar nicht erst zu versuchen, das erst wäre die Niederlage. Das wäre der Verrat an eine ununterbrochene Folge von immer höheren Lebensformen, die auseinander hervorgingen, von den ersten organischen Großmolekülen der Urozeane vor vier Milliarden Jahren bis heute. Alle in der Kette deiner Vorfahren haben überlebt. Hätten sie es nicht, dann wärst du heute nicht hier. Joycelyn, du kannst diese lange Kette an Lebewesen nicht so einfach enttäuschen und verraten. Auch du wirst jetzt zeigen, was in dir steckt. - Zeig ihnen, wie man am Leben bleibt! Zeig Ihnen, aus was du gemacht bist.
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