Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



11. Kapitel



        11.     Planungswirrwar

Die Unterredung mit Cammaroto verlief anders, als ich es mir gedacht hatte. Das Thema 'Straub' war ihm gar nicht so besonders wichtig, und er ging kaum darauf ein. Was wir im wesentlichen machten war, Einzelheiten unseres Vorgehens festzulegen. Sich um alle Kleinigkeiten zu kümmern, das blieb natürlich an mir hängen. Wir hatten über das weitere Vorgehen auch keine Meinungsverschiedenheiten, auch, wenn wir einige Dinge in die Wege leiteten, von denen wir nicht wußten, ob und wieviel Erfolg sie bringen würden.

Da waren zum Beispiel die öffentlichen Aufrufe in den Medien, um innerhalb der touristischen Bevölkerung der Stadt alle Fachleute zusammenzubringen, die eventuell von Nutzen sein konnten. Außerdem wurde den Außenwelten natürlich über unsere Lage genau berichtet. Auch von dort her wären zusätzliche Fachleute mit Know-how zu bekommen, wahrscheinlich noch leichter als innerhalb der Stadt, und für so wenige Leute auch schnell genug. Allerdings ließ das momentane Wetter keine Raumschifflandungen auf diesem Teil des Planeten zu, und woanders würde es uns nichts nützen.

Paul Miesner machte sich daran, den Rechner im laufenden Betrieb zu durchkämmen. Seine Chancen, Mitarbeiter zu finden, waren noch am geringsten, weil der Rechner, der die Stadt steuerte, in dieser Konfiguration nirgends sonst zu finden war, weder von der Hardware-Konfiguration, noch von der Systemsoftware, noch war dieses Steuerprogramm irgendwoanders im Einsatz - logisch, es gibt ja nur diese eine schwimmende Stadt.

Dann gelang es, einige Techniker und Ingenieure zu finden, die mit schwerem Gerät an laufenden Maschinen umgehen konnten. Zusammen mit den Technikern der Stadt wären genügend Leute vorhanden gewesen, um wenigstens ein paar Auftriebszellen synchron abzusperren - keinesfalls alle. Damit war dieses Unterfangen nutzlos. Ebenso wäre es möglich gewesen, ein paar der Antriebsreaktoren synchron abzuschalten - ebenfalls nicht alle. Bei der momentanen hohen Fahrtgeschwindigkeit und der hohen Leistungseinstellung der Vortriebsmaschinen eine der sichersten Methoden, die Stadt zu zerbrechen. Da zeichnete sich also auch keine Lösung ab, und die beteiligten Techniker konnte man in ihrer Funktion auch als 'Debatierclub' bezeichnen, ohne das allerdings abfällig zu meinen. Vielleicht gab es ja die plötzliche Idee, die uns alle rettete.

Eine weitere Entscheidung betraf den Kurs der Stadt. Cammaroto erwog, die Stadt vor das nordwestschottische Festland zu steuern und dort zu kreuzen. Wenn sich das Ende des uns verbleibenden Zeitraums abzeichnete, ohne daß eine Lösung gefunden worden war, so hätte man die Stadt in einen der langgestreckten Meeresarme rammen können. Das Verlassen der Stadt wäre dann über mehrere Stellen des Kontaktes zwischen der Stadt und dem Land möglich.

Allerdings zeigte sich, daß die Stadt für dieses Vorhaben doch etwas zu groß ist. Ideal wäre eine Bucht von etwas mehr als fünf Kilometer Breite und möglichst ein Dutzend Kilometern Länge gewesen. Man dachte zum Beispiel an der 'Inner Sound' zwischen der Insel Skye und dem schottischen Festland, oder den 'Firth of Lorn', oder auch den 'Sound of Jura'. Alle anderen Meeresarme waren zu eng.

Es wurden dann Belastungssimulationen durchgeführt - nicht auf dem Stadtrechner natürlich, obwohl der das ausgefeilteste numerische Modell der Stadt zur Verfügung hatte. Aber bei solchen Dingen kann man gefahrlos etwas approximieren, und dann reicht es aus, wenn die Stadt nicht aus vielen Millionen, sondern nur aus einigen hunderttausend Einzelteilen zusammengesetzt ist. Das Simulationsprogramm mußte ja auch schnell auf die Beine gestellt werden.

Dabei zeigte sich aber, daß das gewaltsame Einfahren in einen Fjord, der sich so verjüngte, daß die Stadt sich festfahren würde, ganz gewaltige Schäden auslösen mußte. Für so etwas war die Stadt nicht konstruiert. Die Stadt hatte in ebenem Wasser zu liegen, allenfalls an den Rändern einige Belastungen durch Seegang auszuhalten und sich mit nur sehr bescheidenen Geschwindigkeiten fortzubewegen. Diese Randbedingungen bewirkten, daß es um die mechanische Festigkeit der Struktur, besonders weit von den exponierten Stellen entfernt, nicht zum Besten bestellt war. Es war ja sogar in erheblichem Umfange Beton und Mauerwerk beim Bau der Stadt verwendet worden, was bestimmt nicht angebracht worden wäre, wenn man nur im entferntesten mit der Möglichkeit gerechnet hätte, daß die Stadt so starke mechanische Belastungen auszuhalten hätte, daß es zu Erschütterungen oder zu einem Schwanken kommen könnte. Die gesamte Konstruktion beruhte auf der Annahme, daß die Stadt sich für alle Zeiten wie eine Art Festland verhalten würde.

Wegen dieser geringen mechanischen Beanspruchbarkeit war ja eben dieser große Aufwand mit der numerischen Stabilisierung der Flutung der Auftriebszellen nötig, oder die genaue Regelung der Vortriebsmaschinen. Wenn dieses 5 mal 25 Kilometer große und nur im Mittel vierzig Meter dicke Bauteil an nur einem Ende angetrieben würde, so wie ein Schiff durch seine Schrauben am Heck, dann würde die ganze Konstruktion sich auffalten wie ein Faltengebirge. Die zahllosen Undichtigkeiten und Risse würden dann schnell genug das Sinken der Stadt bewirken.

Genauso war es mit dem Versuch, in eine Bucht einzufahren. Der Vergleich mit einem Nagel, den man mit einem Hammer in eine vorhandene Kerbe schlägt, kann falscher nicht sein. Im Falle der Stadt hatte man sich den Nagel aus Stroh oder besser noch aus einem dünnwandigen Glasrohr vorzustellen.

Jedenfalls kam bei den Simulationen heraus, daß in der gesamten Stadt viele Mauern einstürzen würden, viele Geräte wegen der Verformung ihrer Fundamente nicht mehr funktionieren würden, und eine unkontrollierbare Anzahl an Lecks auftreten würde. Die Randzonen der Stadt, die sich am Ufer der Bucht aufreiben müßten, würden die gesamte Bewegungsenergie der Stadt dazu verwenden, eine Wüste und einen Verhau aus gebogenen Stahlbauteilen, Mauerstücken und zermalmten Einrichtungen zu erzeugen. Hier würden die Wassereinbrüche sogar besonders heftig sein. Über ein solches Trümmergebiet 1_250_000 Menschen auf das Festland zu führen - unmöglich.

Dazu kommt noch das notorisch schlechte Wetter an Schottlands Küsten und Ebbe und Flut. Die einmal festliegende Stadt würde immer weiter zerstört werden, große Teile, die noch auf die See hinausragten, würden versinken oder teilweise abreißen und steuerlos abdriften.

Ein sanftes Einfahren in eine Bucht brachte wiederum nicht den genügenden Landkontakt, um viele Menschen gleichzeitig die Gelegenheit zu geben, die Stadt zu verlassen. Ideal wäre eine hafenbeckenförmige Bucht von 5 mal 25 Kilometer, die an allen Seiten der Stadt gerade einen Meter Wasser frei läßt. So etwas gibt es aber nicht.

Schottland kam als Notlandeplatz der Stadt also nicht in Frage. Die Simulationen zeigten, daß eine Notlandung sowieso immer mit der Zerstörung der Stadt verbunden waren. Aber am allergeringsten schien das Risiko beim Auffahren auf eine flache Sandküste oder eine genügend große Sandbank.

Deshalb entschied Cammaroto, daß die Stadt in die Nordsee einfahren sollte, um dort zunächst zu kreuzen, bis sich die Notwendigkeit der Notlandung der Stadt tatsächlich ergäbe. Die Küsten Jütlands, Ostenglands, Nord- und Ostfrieslands würden gegebenenfalls die günstigsten Bedingungen bieten. Diese Gebiete hatten auch den Vorteil, daß sie ein flaches Hinterland hatten, wo schwere Raumschiffe landen konnten, um die Bewohner der Stadt wieder aufzunehmen und heim zu den Außenwelten zu fliegen.

Zwei Tage lang schien in der Stadt nichts weiter zu passieren. Das Seegebiet weit nördlich der Shetlandinseln und der Färöer war erreicht worden, fast am Polarkreis, und es ist nun an der Zeit, den Kurs auf Südsüdost zu setzen. Der Orkan hat uns bis heute keine Minute Erholungspause gegönnt. Aber so bekommt man auch nicht den langsam tiefersinkenden Stadtrand zu Gesicht, und mit wenig Aufwand kann man sich einbilden, daß überhaupt nichts Aufregendes geschieht. Selbst vom Turm aus, in dem ich ja nun die meiste Zeit verbringen muß, kann man mit bloßem Auge keine Veränderung entdecken. Der Turm befindet sich Steuerbord auf etwa halbem Wege zwischen Bug und Heck, wenn man bei einer Stadt diese Begriffe verwenden will. Nur nach Süden hinaus kann ich die Wogen aus nächster Nähe sehen, aber die Abschätzung des Stadtrandes an dieser Stelle fällt bei dem ungünstigen Blickwinkel schwer.



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite

Sie sind Leserin dieser Seite Nummer


This page hosted by GeoCities Get your own Free Home Page