9. Verdikt
Es ist einige Sekunden ganz still. Jeder hört das schwache Trommeln des Regens auf den dicken, schrägen, überhängenden Glasscheiben des Kontrollturms. Und hinter den Nebelfetzen erhasche ich, ab und zu, einen Blick auf flatternde Baumwipfel und Stücke träge rollender Wogen, flaschengrün und grau, mit begischtem Haupt. Sollt ihr etwa Sieger sein? sage ich mir. Das ist ungerecht. Was haben wir nicht alles getan, in den letzten hundert Jahren, um diesen Planeten vom Menschen zu befreien. Der Irrweg der ökologischen Massenvernichtung ist vorbei. Jetzt sind nur noch wir hier, eine einzige Stadt, weitab von allem Festland, nur ab und zu höfliche Besucher auf die Gestade schickend, die der Mensch einst für sein ureigenstes Eigentum hielt. Es ist vorbei. Wir machen den Planeten nicht mehr kaputt. Er erholt sich und er hat sich schon erholt. Nur bitte: Nimm uns jetzt nicht diesen letzten Brückenkopf. Dieser Planet war die Wiege der Menschheit. Auch wenn wir das Elternhaus verlassen haben, um nie mehr heimzukehren, so nehmen wir doch einen Schlüssel mit, und Photos aus der Kindheit. Diese Stadt ist der Schlüssel und die Photos, und wir sind noch Gäste. Bitte, wirf uns nicht hinaus!
Und dann denke ich auch daran, wie kalt das Wasser sein wird, wenn es durch die Wände und Decken der Stadt bricht. Wiege der Menschheit oder nicht - dieser Planet kann immer noch zuschlagen. Das hat er zu keinem Zeitpunkt verlernt. Und was solls, wenn wir so dämlich sind und eine Stadt bauen, die sich selbst ersäuft? Das ist der Weg, auf dem die Evolution ihre Fehlleistungen beseitigt.
'Dann wird die Stadt sinken', hat es geheißen, und mit einem Male ist aus einer rein theoretischen Überlegung drohende Wirklichkeit geworden. Ein kollektives Todesurteil. Die Kompetenz desjenigen, der es ausgesprochen hat, die Ähnlichkeit mit meinen eigenen Überlegungen, die ich noch vor kurzem als ziemlich weit hergeholt abgetan hatte, der steinerne Gesichtsausdruck von Rodrigo, der bestimmt protestiert hätte, wenn er in der Argumentationskette eine Lücke gefunden hätte, das alles macht das Urteil glaubhaft.
Und ich habe das alles in die Wege geleitet.
Die Straub findet zuerst die Worte:
"Was meinen Sie damit, 'Die Stadt wird sinken.'? Wie kommen Sie zu so einer Behauptung?"
"Genau wie ich es gesagt habe: Die Stadt wird sinken. Ich sehe im Moment keine andere Möglichkeit."
"Die Stadt wird nicht sinken. In meiner Schicht jedenfalls nicht." Und zu mir: "Was macht dieser Mann eigentlich hier?"
"Ich habe ihn hergeholt. Und Herrn Rodrigo Sanchez auch, um Ihnen diese Frage zu ersparen. Wir sind in einer Krise! Sie waren nicht von Anfang an dabei, ich erkläre es ihnen gerne noch einmal!"
"Darum möchte ich bitten!"
Da passiert etwas ganz Unerwartetes. Rodrigo erwacht aus seiner momentanen Erstarrung, steht auf und stellt sich vor sie hin, fast drohend.
"Nein," sagt er entschieden, "das bringt uns nicht weiter. Wir müssen mit Fachleuten reden, und nicht mit aufgeblasenen, egoschwachen Funktionären, die ihre Stellung auf wer weiß was für seltsame Weise erschlichen haben."
Die Straub ist sprachlos. So hat noch nie jemand über sie oder mit ihr geredet. Aber Rodrigo hat recht. Entweder, wir schaffen es, die Stadt zu retten. Dann ist die Straub abgesägt. Oder wir schaffen es nicht. Dann sind unsere Arbeitsplätze sowieso im Eimer. Und wahrscheinlich auch unser Leben. Egal, ob wir es schaffen oder nicht, in beiden Fällen hängt unsere weitere Karriere nur von diesem Tatbestand ab, und nicht von irgendwelchen Aktionen der Straub. Wir sind in der günstigen Position, unserer Vorgesetzten unsere Meinung zu sagen. Von einem Moment zum anderen ist die formale Hierarchie unwichtig geworden. Rodrigo hat das schneller begriffen als ich.
Problem Nummer eins: Um überhaupt etwas zu tun muß die Straub weg. Schnell. Sie hält uns nur auf. Ich denke, ich weiß, was Rodrigo vorhat: Er will sie so reizen, daß sie ihm eine langt. Tätlicher Angriff eines Vorgesetzten gegen einen Mitarbeiter, und das vor Zeugen. Reicht aus als Begründung für Notwehrmaßnahmen. Frage nur, wer macht's? Sieht so aus, als ob Rodrigo sich dafür opfert.
"Sehen Sie, Frau Straub, es ist jetzt vielleicht wirklich besser, wenn Sie nach Hause gehen und sich ausruhen." Säusele ich sie an. "Wir müssen jetzt ohnehin den Stadtkommandanten benachrichtigen, und den ganzen Stadtrat. Es wird vielleicht voll, hier oben im Turm. Da ist es besser, wenn sie nicht im Wege stehen."
"Ja," sagt Miesner, nicht direkt gegen die Straub gewandt, "wir brauchen alle hier, die sich mit der Technik der Stadt auskennen." Nach einer Pause: "Nur fähige Leute." Ohne sie direkt anzusehen, versteht sich.
Rodrigo schreitet zur Tür des Zentralschachtes und öffnet sie. "Bitte."
Die Straub blickt wie ein Raubvogel in die Runde. Aber sie ist völlig aus der Fassung. Ruckartig bewegt sie sich auf den Schacht zu.
"Sie werden sich noch an diese Stunde erinnern!" ruft sie im Hinausgehen. Eine gnädige Tür schließt sich hinter ihr. Wie ich Türen liebe!
"Das habe ich jetzt nicht verstanden," meint Miesner belustigt, "Ich denke, an diese Stunde werden wir uns mit Sicherheit den Rest unseres Lebens erinnern - wie lang das auch sein mag."
"Denken Sie nicht mehr an sie." sagt Rodrigo, "Sie ist jetzt nicht mehr wichtig. Wir sind sogar formell im Recht. Wir haben sie ja nur gebeten, nach Hause zu gehen und sich zu schonen. Und das hat sie gemacht. Sie hätte ja hierbleben können - dann hätten wir uns eine andere Methode, sie loszuwerden, ausdenken müssen."
"Aber - wie kommt diese Person in diese Position? Sie ist doch ihre Vorgesetzte, nicht wahr? Jedenfalls benimmt sie sich so."
"Das ist auch das einzige, was sie kann - sich wie eine Vorgesetzte zu benehmen. So, wie sich der kleine Fritz eine Vorgesetzte vorstellt. Denken Sie an Kinder die 'Büro' spielen. Einer macht den Dienststellenleitenden. Sehen Sie - das ist die Straub. Fragen Sie mich nicht, wie sie es in diese Position geschafft hat. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es."
"Themawechsel," sage ich, "Entschuldigt, aber jetzt muß ich die Vorgesetzte spielen. Ich bin immer noch nautischer Stadttechniker im Dienst. Wir müssen kein Urteil über die Straub fällen, sondern die Stadt retten."
"Ja, das müssen wir." nickt Rodrigo, "Und noch etwas anderes müssen wir: Inzwischen wird die Gerüchteküche arbeiten. Ich wundere mich sowieso, wieso noch keine Anfragen gekommen sind."
"Das wird noch passieren. Die Anfragen gehen zuerst in die Leitwarte. Bei den ersten zwei Anrufern werden die an einen Spaß denken. Dann fragen sie hier nach. Ich wette, es dauert nicht mehr lange."
In diesem Moment surrt das Visiophon.
"Seht ihr! Was habe ich gesagt!"
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