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8. Kapitel



        8.      Noch ein Experiment

Ich setze mich wieder auf den Kontrollstuhl.

"Schalten Sie die Vortriebsmaschinen aus, Techniker Pemberton."

Das darf doch nicht wahr sein! Da gibt es nur eine einzige Sache, was man als nächstes tun kann, die, deren Aufgabe es ist, genau das zu tun, fängt an, es zu tun, und diese Straub gibt die Anweisung, genau das zu tun, was niemand in Zweifel gezogen hätte zu tun, wenn sie nicht diese blöde Anweisung gegeben hätte, genau das zu tun! Muß sie wieder alle Welt auf diese Weise daran erinnern, daß sie die Chefin ist? Das erinnert mich an einen Witz, den ich mal auf einem Englisch-Kurs gehört habe: Ein Pärchen wandert am Ufer eines Ozeans entlang. Er, ein bißchen romantisch, deklamiert: 'Roll on, big ocean, roll on'. Und Sie: 'Look! He's doing it!' Genauso kindisch ist die Straub. Nur lustig ist es nicht.

Genaugenommen steigt in solchen Momenten der Ärger in mir hoch. Das ist eine ganz bestimmte Form von Ärger, die sich einstellt, wenn Leute, die in irgendeiner Weise gegenüber einem selbst weisungsbefugt sind oder sich dafür halten, solchen spektakulären Blödsinn von sich geben. Beispiel einer häufigen Konstellation: man bekommt den Auftrag, zwei Tätigkeiten, A und B zu erledigen, fängt mit A an und wird dann gefragt, warum man nichts an B tut oder warum B noch nicht fertig ist. Wenn man dann A unterbricht, um B anzufangen, kann man sicher sein, daß demnächst nachgeforscht wird, was mit A los ist. - In solchen Momenten habe ich lebhafte Gewaltvorstellungen.

Aber das würde nichts bringen, und man muß sich zwingen, kaum Gemütsregungen zu zeigen. Die Magensäure kocht umsonst und ätzt wahrscheinlich so ein bißchen an der Magenschleimhaut herum. Aber trotzdem ist die einzig richtige Antwort auf solche Situationen und solche Leute, diese in geeigneter Weise mit ihrer eigenen Inkompetenz zusammenstoßen zu lassen. Irgendwann auflaufen zu lassen, meinetwegen. Die Gelegenheit findet sich über kurz oder lang. Der Schaden, den man bei diesen Leuten und deren Karrieren anrichten kann, ist dann viel nachhaltiger als wenn man sich zu schnellen Reaktionen hinreißen ließe.

Bei der Straub ist mir das in der Vergangenheit allerdings nur sehr rudimentär gelungen. Die Gelegenheit war noch nicht sehr günstig, und sie scheut gegebenenfalls auch nicht vor klaren Falschaussagen zurück, um sich selber wieder in besseres Licht zu stellen. Dabei wirkt sie so überzeugend, daß man glauben könnte, sie sei von der von ihr vorgetragenen Revision des wirklichen Tatbestandes tatsächlich überzeugt. Leider wirkt das auch auf andere überzeugend. Man muß sie schon näher kennen, um Fassade und Person der Frau Straub auseinanderzuhalten, und um auf die Idee zu kommen, ihre Version des Tatbestandes genauer zu untersuchen.

Es würde ja sogar ausreichen, wenn man sie indirekt und subtil spüren ließe, daß alle um ihre Inkompetenz wissen. Es wäre für sie ein dauernder Streß, dem sie, jedenfalls im Dienst, nicht entrinnen könnte. Aber leider ist die Straub zu unsensibel, um diese Situation zu fühlen und darunter zu leiden. Jeder andere an ihrer Stelle hätte schon mal etwas genauer über sich selbst nachgedacht, und über die möglichen Gründe, warum man mit den Mitarbeitern nicht so reibungslos klarkommt.

Manchmal denke ich, wenn man eine Geschichte oder einen Roman schriebe und ließe so eine Person darin auftreten, denn wäre man als Autorin unten durch. Das würde kein Leser glauben, daß so einen Charakter in der Wirklichkeit tatsächlich vorkäme.

Dabei ist es schade, wenn die Gelegenheit für gutes Betriebsklima durch eine Führungsperson so gründlich verspielt wird. Ich halte Prinzipien wie gegenseitige Loyalität für sinnvoll und delegative Aufgabenverteilung für vernünftig. Ich habe im Prinzip nichts gegen Vorgesetzte. Solange jemand, der Weisungen erteilt, Kompetenz hat und die Verantwortung auf sich nimmt ist das völlig in Ordnung. Schließlich leben wir in einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft. Wir könnten ein gutes Team sein, wir könnten die Frau Straub unterstützen, wir könnten erreichen, daß in ihren Schichten der Dienstbetrieb völlig reibungslos abläuft, reibungsloser als in anderen Schichten.

Wenn diese Frau nicht die personifizierte Reibungsfläche an sich wäre.

Die Vortriebsmaschinen auszuschalten gelingt in der Tat nicht. Es gibt ebensolche Meldungen wie die, die wir beim Versuch, die Ventile zu schließen, gesehen haben.

Der nächste Versuch betrifft die Reaktoren. Man könnte ja die Vortriebsmaschinen einfach aushungern, indem man ihnen den Saft abdreht. Und der bleibt automatisch weg, wenn man die Reaktoren abschaltet. Spätestens nach fünfzehn Minuten.

Es geht auch nicht. Mir wird wieder mulmig. Ich habe bereits weniger Macht über die Stadt als ich vermutet habe. In der ganzen Stadt verteilt werden Energieströme im Gigawattbereich erzeugt, die ich nicht mehr kontrollieren kann. Wahrscheinlich ist das schon so, seit ich das erste Mal versucht habe, die Ventile zu schließen. Es liegt wohl daran, daß die Navigation des Rechners immer noch funktionierte - wahrscheinlich auch eine nur für diesen Zweck arbeitende Task. Deshalb bin ich solange davon ausgegangen, daß die meisten anderen Funktionen auch noch verfügbar sind.

"So. Die Situation wird klarer. Bemerkenswert klar. Die Ventile bleiben offen, und der Antrieb läßt sich nicht einmal drosseln. Die nächsten Vorschläge?" Miesner sieht in die Runde.

"Rechner runterfahren? Nein. Geht nicht." Die Antwort kann ich mir selbst geben. Ohne den Stadtrechner, der ja noch teilweise funktioniert, würden uns die Vortriebsmaschinen zerreissen, und ein ungleichmäßigeres Einlaufen des Wassers in die Auftriebszellen würde ebenfalls über kurz oder lang zu nicht beherrschbaren Strukturschäden in der Stadt führen.

"Evakuieren?" fragt Miesner.

"Habe ich schon dran gedacht. Geht nicht einmal bei schönem Wetter. Weder an Land noch nach oben. Außerdem sollten wir zuerst alle Optionen prüfen, die eine Rettung der Stadt mit einbeziehen."

"Ja. Sie haben Recht. Ventile und Antriebsmaschinen - manuell aus? Es müßte genau gleichzeitig geschehen."

Rodrigo schüttelt den Kopf.

"Es sind zu viele, und wir haben zuwenig Leute. Man braucht schweres Gerät, um da ranzukommen. Wir haben nicht genug. Umschalter und neue Kabel zu legen, um den Rechner und seine Stellmotoren zu umgehen, kostet Zeit. Viel Zeit. Ich würde schätzen, daß ich mit dem vorhandenen Personal drei Monate brauche. Vielleicht weniger, wenn sich unter der Stadtbevölkerung Freiwillige finden, die man einarbeiten könnte."

Rodrigo denkt weiter nach.

"Sowohl die Pumpen als auch die Ventile sitzen auf dem Boden ihrer jeweiligen Auftriebszelle. Unter Wasser mit armdicken Starkstromkabeln herumzuhantieren - wie soll das gehen? Zu Wartungszwecken macht man eine Auftriebszelle leer! Und die Energieversorgung der Vortriebsmaschinen ist noch stärker - noch dickere Kabel, überall schwer zugänglich. Das gibt Tote, wenn wir nur versuchen, an diesen Kabeln herumzumanipulieren, egal, an welcher Stelle, und wir erreichen doch nichts. Herrgott, die ganze Stadt ist vom Stadtrechner abhängig! Das geht nicht darum, einen Klingeldraht neu zu verlegen!"

"Also läßt sich im laufenden Betrieb keine derartige hardwaremässige Umrüstung vornehmen? Ohne die Cooperation des Rechners?" faßt Miesner zusammen.

"In den zwölf Tagen, die wir haben ..." Rodrigo denkt scharf nach, wie jemand, der versucht, 2 und 2 so zu addieren, damit vielleicht doch noch fünf rauskommt, "... in - nicht mal in zwanzig Tagen. Nein. Es geht nicht."

"Und kann man nicht" frage ich "am laufenden System Reparaturen machen - ich meine, am Computer? Speicherinhalte ansehen und umsetzen, wo notwendig?"

"Da bin ich nun wieder der Fachmann," sagt Miesner, "um das zu beantworten. Im Prinzip geht das. Wir haben Maschinenmonitore im System. Wir können in der Tat jedes Byte ansehen und ändern, im Hauptspeicher und auf den Massespeichern. Aber es nützt uns nichts.

"Es handelt sich um ein Riesensystem. Millionen Zeilen von Quellcode. Wo der Compiler nun was hingepackt hat, daß ist sehr schwer herauszufinden, und sehr langwierig. Man kann ein solches System mit zusätzlichen Tabellen übersetzen, die das Debugging leichter machen - das ist aber hier nicht geschehen. Dazu kommt noch, daß man die ganzen dynamischen Datenstrukturen durchkämmen muß. Die stehen irgendwo im Speicher. Man kann sie nur über irgendwelche Adreßverweise erreichen, die vielleicht auch Teil einer dynamischen Datenstruktur sind, die wiederrum über Adreßverweise erreichbar sind ... und so weiter! Das sieht nicht so ordentlich aus wie im Quellprogramm: 'array of record of array of irgendwas'. Das ist ein Chaos in Binärdarstellung! Und alles ändert sich dauernd, wird neu generiert, adressiert, im Speicher verschoben, kopiert, wieder ungültig gemacht! Milliarden von Bytes, die jede Sekunde dutzendfach ihre Bedeutung ändern!

"Und sowohl die Fachleute, die das Steuerprogramm geschrieben haben als auch die Compilerbauer sind nicht hier - außer mir. Es ist Zufall, daß ich in beiden Projekten drin war. Und ich alleine schaffe es nicht. Nicht in der Zeit. Völlig unmöglich. Wahrscheinlich könnte ich es nicht einmal in der Zeit schaffen, die ich noch zu leben habe - unter den günstigsten Annahmen. Gibt es nicht noch etwas, was man tun kann - unter Umgehung des Stadtcomputers?"

Rodrigo schüttelt den Kopf: "Mir fällt nichts ein."

"Mir auch nicht." sage ich.

"Dann," sagt Miesner, "wird die Stadt sinken."



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