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2. Kapitel



        2.      Panik und Kollegenhilfe

Ich wähle Rodrigo an. Er ist gerade wieder am Einschlafen gewesen und offensichtlich verärgert. Ich erläutere ihm die Situation.

"Nochmal: Das Wassereinlaufen in die Auftriebszellen läßt sich nicht drosseln? Habe ich das richtig verstanden?"

"Ja."

Plötzlich scheint er hellwach. "Ich komme rauf. Unternimm nichts." Er springt aus dem Bett, bevor der Bildschirm ganz dunkel ist. Mir wird unwohl. Wenn Rodrigo besorgt schon ist ... das hat es doch noch nie gegeben.

Er braucht einige Kilometer von seinem Apartment bis hier. Es wird wohl ein paar Minuten dauern. Hoffentlich taucht in der Zeit die Straub nicht auf.

Die Ventile gehen nicht zu. Was bedeutet das? Ach, sie müssen zugehen. Es ist doch bisher immer gegangen. Die bloße Existenz der Stadt beweist das. Undenkbar, wenn ...

Hoffentlich bewegt sich Rodrigo einigermaßen schnell: Ich fühle mich jetzt mit der Stadt sehr allein.

Aber man kann sich ja ablenken, und ich fange an, nachzurechnen: Auftriebsverlust pro Sekunde ist etwa 1250 Tonnen. Bißchen mehr, weil Seewasser schwerer ist, aber unter Schwestern 1250 Tonnen. Die Stadt mit ihren fünf Kilometern Breite und etwas mehr als fünfundzwanzig Kilometern Länge hat eine Fläche von etwas mehr als 125 Millionen Quadratmetern, und zwar ziemlich unabhängig von ihrer Eintauchtiefe. Das macht die Rechnung schön einfach - bei einem Schiffsrumpf wäre es schwieriger. Daß Teile der Stadtränder keine vierzig Meter hohe Bordwand bilden, sondern als Strände oder Gartenterassen mit künstlichem Felssimulat ausgelegt sind, die flach oder wenigstens nicht senkrecht ins Wasser führen, stört die Rechnung bei der Größe der Stadt nicht sonderlich.

Ein Absinken der Stadt um einen Meter erfordert also einen Auftriebsverlust von 125 Millionen Tonnen. Wenn der Auftriebsverlust pro Sekunde 1250 Tonnen beträgt, dann dauert das etwas mehr als einen Tag - eben hundertausend Sekunden.

Der Spielraum, der durch die Abmessungen der Auftriebszellen bedingt ist, ist etwa elf Meter, da sie insgesamt 1375 Millionen Tonnen Wasser fassen - mehr als ein Kubikkilometer. Man hat sich die Stadt als eine Stahlkonstruktion von etwa vierzig Metern Dicke vorzustellen, deren Tiefgang zwischen 28 und 39 Metern variiert. Entsprechend dem Füllungsgrad der Auftriebszellen ist die Stadtkante etwa einen bis zwölf Meter über dem Wasserspiegel.

Ich denke an den Vergleich, der uns in der Ausbildung zum Stadttechniker erläutert wurde und den man sich immer wieder klarmachen muß, um sich die Größenverhältnisse plastisch vor Augen zu führen. Wenn man ein Modell der Stadt im Maßstab 1 : 5000 anfertigt, dann hätte man ein Gebilde von fünf Metern Länge und einem Meter Breite vor sich - so viel wie zwei aufeinandergestellte Türen. Die Dicke wäre gerade noch acht Millimeter - eben vierzig Meter geteilt durch fünftausend. Das ganze hätte man sich zusätzlich noch enorm zerbrechlich vorzustellen, etwa hergestellt aus einem Schaum aus feinsten Glasmembranen.

Dieses Gebilde würde flach auf dem Wasser schwimmen und zwischen sechs und fast acht Millimetern eintauchen. Der Unterschied wäre auf den ersten Blick gar nicht wahrzunehmen. Auch ist es einzusehen, daß die Fahrteigenschaften der Stadt durch den unterschiedlichen Tiefgang kaum beeinflußt würden. Jedenfalls so lange nicht, wie der Tiefgang des Stadtmodells nicht über acht Millimeter ansteigt.

Als ich die Ventile um vier Uhr heute morgen öffnete - vor weniger als fünf Stunden - da waren die Auftriebszellen leer. Man füllt sie eigentlich nur, um der Stadt durch einige hundert Millionen Tonnen in ihrem Bauch eine bessere Lagestabilität zu verleihen, wenn die meteorologische Bedingungen es erfordern. Die Auftriebszellen sind mit einer engmaschigen Gitter-Lamellenkonstruktion gefüllt, und jede Bewegung der Stadt bewegt die Wasseroberfläche in den Auftriebszellen, diese Wellen werden wiederum stark weggedämpft. Ganz einfach. Wasser im Bauch beruhigt.

Mich jetzt aber nicht. Elf Meter Spielraum. Jeder Meter braucht 100000 Sekunden, um verspielt zu werden. 1.1 Millionen Sekunden. Ich rechne genauer nach. 12 Tage und 18 Stunden. Dann sind die Zellen voll.

Eigentlich eine beruhigend lange Zeit. Bis dahin wird uns schon etwas einfallen, um die Ventile wieder dicht zu machen.

Was aber würde passieren, wenn es nicht gelänge? Es ist eigentlich klar. Die Auftriebszellen würden überlaufen, in das Innere der Stadt, und anfangen, Schäden anzurichten. Seewasser hat zum Beispiel in Kabelschächten oder Reaktorfundamenten oder Computerräumen überhaupt nichts zu suchen. Auch nicht in privaten Apartments, den Versammlungsräumen, Hotels, Restaurants, Sportanlagen, Verwaltungs- und Vorratsräumen und den hydroponischen Farmen.

Diese Phase würde einen weiteren Tag in Anspruch nehmen. Schon während dieses Tages würden Wellen vermehrt Wasser auf die bewachsene Oberfläche der Stadt werfen. Diese ist zwar leidlich gegen Regenwasser und Grundfeuchtigkeit gesichert, aber es gibt dort zahllose Eingänge in das Stadtinnere. Diese können nicht wasserdicht verschlossen werden. Schon gar nicht druckwasserdicht. Und das müßten sie nämlich.

Wenn die Wasseroberfläche die Oberkante der Stadt erreicht hat, dann liegen nur noch wenige Aufbauten über Wasser, unter anderem dieser Kontrollturm und einige andere. Der Auftrieb der Stadt wäre im wesentlichen aufgebraucht. Wenn die Oberfläche der Stadt die Wasserlinie unterschneidet, dann ist es vorbei. Dann sinkt die Stadt.

Wenn das passiert, dann kommt das Ende sehr schnell. Die Oberfläche der Stadt ist nicht druckfest konstruiert, und der Stadtkörper als Gesamtheit nicht biegefest. Die Stadt ist schließlich kein U-Boot. Schon beim Erreichen einer geringen Wassertiefe von wenigen Metern gäbe es eine Vielzahl von Wassereinbruchstellen. Die Rate von 1250 Tonnen Seewasser pro Sekunde würde blitzartig ansteigen. Schon einige weitere Meter Tauchtiefe würde zu Masseneinbrüchen der Stadtoberfläche führen. Rasch würde ein Auftriebsdefizit von vielen Millionen Tonnen entstehen, das das Riesenwrack weiter in die Tiefe reißt, auch wenn das Seewasser sich zunächst mühsam einen Weg um die flache Stadtkonstruktion herumsuchen muß.

Letzterer Effekt würde zu strömungsdynamischen Kräften auf die Stadt führen, und zwar unterschiedlich auf Teile der Stadt, die unterschiedlich weit vom Stadtrand entfernt sind. Das ergäbe Biegemomente auf die gesamte Stadt, denen sie nicht gewachsen ist. Sie würde regelrecht zerbrechen.

Gerade an dem 1 : 5000 Modell kann man sich diesen Effekt sehr schön vor Augen führen. Das ist auch ein Grund, warum man uns von diesem Modell nur erzählt hat, ohne tatsächlich eines gebaut zu haben. Die maßstabsgetreue Verringerung der Festigkeit eines solchen Modells hätte dazu geführt, daß es dauernd zerbräche - praktisch schon beim lauten Sprechen. So blieben uns in der Ausbildung nur Computersimulationen solcher hypothetischen Vorgänge.

Was sich in den Gängen und Wohnungen und Straßen und Plätzen der Stadt abspielen würde, darüber erlaube ich mir jetzt keine detaillierten Vorstellungen. Im Gegensatz zu den technischen Aspekten eines rein theoretisch möglichen Sinkens der Stadt wurde uns darüber in unserer Ausbildung auch nichts mitgeteilt.

Fieberhaft denke ich nach, was ich falsch gemacht haben könnte. Aber ich habe doch nur Routinemanöver eingeleitet, oder? Oft genug in Simulationen geübt. Da kann nichts falsch gelaufen sein.

Inzwischen erzeugen die Reaktoren Energie. Ich sehe, daß die Vortriebsmaschinen angelaufen sind. Das heißt, das 'Situation Board' verrät mir das. Spüren kann ich nichts, weder von den Vibrationen der Motoren noch ändern sich Wind oder Wellen. Die Geschwindigkeitsanzeige von bis jetzt einem Drittel Meter pro Sekunde ändert sich noch nicht. Am Stadtrand würde man auch noch nichts merken.

Ein Summton am Zentrallift. Rodrigo, Gottseidank, nicht die Straub. Ich mache ihm sofort Platz. Er ist ohne Zweifel der erfahrenere Kollege von uns beiden. Was ihn allerdings nicht hindert, schon nach wenigen Sekunden genau die gleiche seltsame Fehlermeldung zu erzeugen, die ich auch schon zweimal gesehen habe. Auch, daß der Wassereinlauf immer noch anhält, überprüft er.

"Das sieht aber sauer aus, Joycelyn. Was hast du bloß gemacht? Am besten, du erzählst es mir in allen Einzelheiten."

"Da gibt es nicht viel zu erzählen. Alles, was du gesagt hast. Das Hochfahren der Fahrtreaktoren hat zum Beispiel geklappt."

Rodrigo überprüft auch das. Inzwischen macht die Stadt eine Fahrt von 38 Zentimetern pro Sekunde. Bald werden die Reaktoren die volle Leistung erreicht haben, und dann dauert es noch eine ganze Weile, bis die Massenträgheit der Stadt überwunden ist.

"Ich versteh es nicht," sagt er, "Es gibt nur diese eine Möglichkeit, die Ventile zuzumachen. Und irgend etwas geht da schief."

Er seufzt schwer.

"Jedenfalls sind wir nicht in unmittelbarer Gefahr. Wir können gründlich arbeiten. Laut Vorschrift müssen wir jetzt Madam informieren. Das mußt du machen, Joycelyn. Ich bin ja nicht im Dienst."

Wirklich eine schwere Entscheidung. Die Frau Straub herzubeordern bedeutet Hektik, aber nicht notwendig Entscheidungskompetenz. Dafür ist sie nicht bekannt. Was ihr den Weg in ihre Position geebnet haben könnte, das ist auch nicht bekannt. Ich wähle durch. Der Bildschirm bleibt dunkel. Madam ist wahrscheinlich unpäßlich, aber sie meldet sich wenigstens.

"Techniker Joycelyn Pemberton auf Leitwarten-Morgenwache, für Leitwartenverwaltung, dringend. Sind sie sprechbereit?"

Rodrigo grinst ob meiner geschraubten Ausdrucksweise. Ich nicht - auf mich ist die Kamera des Visiophons gerichtet.

"Ja. Was ist los?"

"Wir haben ein Problem."

"Was für ein Problem, bitte?"

Der Bildschirm bleibt immer noch dunkel.

"Die Auftriebszellen laufen voll. Wir können es nicht abstellen."

"Na und? Werden Sie mit dem Problem nicht alleine fertig? Rufen Sie den Wartungsdienst, die sollen sich drum kümmern."

"Aber es ist doch wichtig ..."

"Können sie nicht selbsttätig entscheiden? Was belästigen sie mich damit?" faucht mich das blinde Visiophon an.

"Es könnte gefährlich werden ..."

"Das ist eine Erklärung, aber keine Entschuldigung."

"Wie sie wünschen. Techniker Joycelyn Pemberton Ende." Ich schalte ab.

"Die hat überhaupt nicht kapiert, worum es geht." sagt Rodrigo. "Und die letzte Bemerkung von ihr - wo war da die Logik? Glaubte sie tatsächlich, du wärst ihr für irgend etwas eine Entschuldigung schuldig?"

"Jedenfalls," sage ich, "kann uns niemand einen Vorwurf machen, wir hätten es nicht versucht. Den Vorschriften ist genüge getan worden. Also wollen wir jetzt Taten sehen. Mach dir keine Gedanken mehr über die Straub. Diese logischen Schnitzer passieren ihr immer öfter. Vielleicht bekommt sie Alzheimer. Wie ich ihr das wünsche - wie sie auf der Toilette sitzt und nicht mehr weiß, was man mit dem Papier anfängt."

"Weiß sie es denn?" murmelt Rodrigo, "Wie ich sie kenne, käme sie auf die Idee, es zu unterschreiben. Sie genehmigt ja öfter irgend so eine Scheiße."

"Und den Durchschlag nimmt sie mit nach Hause und heftet ihn ab!" führe ich die Idee fort. Ich wähle den Wartungsdienst der Stadt an. Es dauert eine Weile. Jeder hört sich die Beschreibung des Problems an, immer wieder werde ich weitervermittelt. Ich muß schon sagen, die meisten Leute, mit denen ich spreche, begreifen sehr rasch, was ein unbegrenztes Vollaufen der Auftriebszellen bedeuten könnte. Das Verständnis des Problems erfordert offenbar keine übergroßen intellektuellen Resourcen. Nur kurz denke ich daran, daß ich auf diese Weise ein Gerücht in der Stadt in Umlauf setze.

Als sich endlich ein Software-Fachmann gefunden hat, der mit der Steuersoftware der Stadt befaßt war und auf dem Weg zu uns ist, fällt mir etwas ein:

"Wir haben doch Pumpen? Können wir nicht das Eindringen des Wassers mit den Pumpen kompensieren?"

"Ne." murmelt Rodrigo, "Die Zu- und Ableitventile sind eine einzige Baugruppe. Es geht nur entweder-oder. Solange die Einlaßventile offen sind, sind die Pumpen blockiert."

"Scheiße."

Ich lasse mich auf den Kontrollsitz fallen. Der Wind rüttelt heftiger am Turm. Er zittert nicht ein bißchen. So stabil ist hier alles gebaut. Es ist doch eigentlich völlig undenkbar, daß dieses alles zerstört werden könnte. Diese Stadt ist älter als ich selbst, und seit ich denken kann, habe ich sie immer für ähnlich unsinkbar gehalten wie einen richtigen Kontinent.



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