1. Tasking Error
"Genau wie ich es gesagt habe. 1250 Kubikmeter Seewasser pro Sekunde in die Auftriebszellen wiedereintrimmen, seit heute morgen um vier Uhr, auf Anweisung der Leitwartenchefin Straub. Die Zyklone ist im Anmarsch, und es wird mit Winden von Orkanstärke gerechnet. Da muß die Stadt schon etwas tiefer liegen, damit die Randbezirke nicht zu sehr von den Grundseen gebogen werden."
Rodrigo ist ungeduldig. Verschlafen sieht er auch aus. Ist er vermutlich auch.
"Ich weiß auch, wie man die Stadt manövriert, Joycelyn. Das habe ich ja auch nicht gefragt. Nur, wenn du mich am frühen Morgen aus den Federn klingelst, dann wirst du mir ja etwas mehr als das mitteilen wollen."
"Will ich ja die ganze Zeit!" fahre ich fort, auch ungeduldig. Auch nach einer durchwachten Nacht ist man geistig immer noch reger als jemand, der gerade erst aus tiefen Träumen emporgerissen wurde.
"Das ist jetzt vier Stunden her. Die Stadt liegt jetzt um fast fünfzehn Zentimeter tiefer. Der Orkan ist bald da, und die Gesamtabsenkung sollte zwei Meter sein. Das braucht 250 Millionen Tonnen. Geht's nicht schneller? Ich bin noch nicht solange in dem Job, ich habe eben erst nachgerechnet. 1250 Tonnen pro Sekunde sind doch eigentlich wenig!"
Rodrigo wälzt seinen Körper, dem man den früheren Sportler noch gerade eben ansieht, im Bett. Er scheut sich nicht, zu zeigen, daß er müde ist. Würde lieber jetzt als gleich die Lukendeckel wieder zumachen. Irgendwie habe ich ihn lebhafter aus den Zeiten in Erinnerung, als ich ihn kennenlernte.
Schade, daß so viele Männer in mittlerem oder auch schon in frühem mittlerem Alter anfangen, sich so gehenzulassen. Auch für einen Mann ist es kein Naturgesetz, um die vierzig einen Äquatorring haben zu müssen. Oder, wer weiß, vielleicht ist es doch ein Naturgesetz - Wer hat das gesagt: 'Kratz an einem Mann, und es kommt ein Pascha zum Vorschein.'? Plausibel. Paschas bewegen sich nicht gern. Und setzen Fett an.
"Ist auch nicht viel." sagt Rodrigo, der meine Gedanken glücklicherweise nicht lesen kann, "Aber mehr ist einfach nicht drin. Wenn ein Orkantief im Anmarsch ist, dann öffnet man die Ventile eben RECHTZEITIG. Das hat die Straub verpennt. Typisch. Wo ist sie denn?"
"Es ist WOCHENENDE."
"Ach ja. Das beantwortet alles. Die teilt sich nie selbst zu Nachtschichten oder Wochenendschichten ein."
"Und was soll ich tun?"
Rodrigo schüttelt die ehemals athletischen Schultern:
"Du kannst nichts tun. Mehr als 1250 Tonnen pro Sekunde einlaufen zu lassen ist einfach nicht möglich. Was vielleicht sinnvoll wäre ist, zwei oder drei Millionen Tonnen auf die Luvseite zu trimmen - äh, laß das lieber. Das war in Kladde gedacht. Oh was bin ich müde. Wasser auf die Luvseite zu pumpen würde eine geringe Schräglage der Stadt bewirken, und die würde der Stadtrechner sofort auszugleichen versuchen, indem er asymmetrisch Wasser einlaufen läßt. Das geht aber nur, wenn die Brutto-Einlaufmenge in die Auftriebszellen abgesenkt wird. Von wo kommt überhaupt der Wind?"
"Genau aus Westen. Und die Dünung ist schon recht ordentlich, aber das war sie vorher auch schon. Naja, was soll man im Nordatlantik um diese Jahreszeit sonst erwarten. Ich kann es von hier aus sehen, wenn nicht gerade Regenschleier vorbeiziehen. Ich habe die Stadt in Ostwest-Richtung positioniert, vorsichtshalber."
"Gut. Hätte ich auch gemacht." Rodrigo gähnt.
"Rodrigo, ich habe noch nie eine Sturmschicht gefahren!" Mir ist tatsächlich etwas mulmig. Das ist wohl die Verantwortung für mehr als eine Million Menschen.
"Oh Joycelyn, wo ist da das Problem? Die Stadt kann sowas ab! Ein Raumschiff hätte jetzt Schwierigkeiten, hier zu landen, aber die Stadt kann jeden Orkan aussitzen, jeden! Bist du allein in der Leitwarte?"
"Im Turm. Ja. Alle unsere Schiffe sind drin. Andere gibt es nicht - kein Gegenverkehr. Island im Norden und Irland im Osten sind jeweils etwa 1000 Kilometer entfernt. Da hat eine nautische Stadttechnikerin wenig zu tun. Also bin ich allein. Es sei denn, die Straub läßt sich hier blicken."
"Unangemeldet. Sähe ihr ähnlich. Aber keine Angst, nicht am Freitag um acht Uhr morgens. Weißt du was? Stell das Wassereintrimmen ab und nimm Fahrt in Richtung Norwegen auf, immer genau vor dem Wind weg. Das dämpft die Wirkung der Grundseen am westlichen Stadtrand auch etwas. Du wirst sehen, es gibt keine einzige Anfrage in der Leitwarte, warum die Stadt schwankt."
"Position verändern? Darf ich das? Muß ich nicht erst die Chefin fragen?"
"Ne," schüttelt Rodrigo den Kopf, "solange du alleine in der Leitwarte bist, hast du die Verantwortung. Du bist im Moment der diensthabende nautische Kommandant der Stadt. Außerdem ist es egal, was du machst, die Straub wird immer rummeckern. Also kannst du es ganz unbeeinflußt auch richtig machen."
"Wenn du meinst ..."
"Ich meine. Soll ich raufkommen?"
"Nein. Du hast Freiwache. Ist schon schlimm genug, daß ich dich aus dem Schlaf geklingelt habe. Tschuldige."
"Das macht nichts," lügt er, "wohl dem, der seinen Freunden ein echter Freund sein kann. Also dann!" Sprichts, und der Bildschirm wird dunkel.
Während unseres Gespräches ist es dunkler geworden, obwohl es am Morgen eigentlich umgekehrt sein sollte. Tiefliegende, zerfetzte Wolken werden nach Osten getrieben, und die Wogen draußen auf dem Ozean sind gischtig weiß. Der Regen peitscht waagerecht an die westlichen Fenster des Kontrollturmes - auf den über sechzig rückwärtigen Quadratkilometern der Stadt kann ich nichts genau erkennen, nicht einmal die flachen Stadtseen. Ob die ersten Bäume des Waldes, der die ganze Stadt bedeckt, schon umgerissen worden sind? Da unten, um den Turm herum, wo man noch etwas vom Wald sehen kann, schwanken die Baumkronen jedenfalls ganz ordentlich. Egal, der größte Teil des fast 125 Quadratkilometer großen Waldgebietes ist sowieso Wildnis, und da fallen eben ab und zu Bäume um. Außerdem habe ich die Leitwarte schon veranlaßt, an einigen exponierten Stellen Windbrecher hochzuziehen.
Ich überzeuge mich, daß in der Stadt an allen Ausgängen auf die Oberfläche die Sturmwarnung zu sehen ist. Wer jetzt von der Kante der Stadt in das Wasser geweht wird, hat keine Chance. Er würde wahrscheinlich nicht einmal bemerkt werden. Und im Wald selbst kann man natürlich auch durch stürzende Bäume zu Schaden kommen.
Ein Waldlauf wäre jetzt absolut nicht ratsam, obwohl ich das Laufen in Wind und Regen mag. Man fühlt sich so stark und erdverwachsen, wenn man gegen den Wind anrennt und seine eigenen Kräfte mit der rohen Natur mißt, ohne auf die Hilfe irgendeiner Technologie angewiesen zu sein. Im Moment jedoch ist die Natur definitiv stärker, und da will ich diese Experimente lieber sein lassen. Dabeigewesen sein ist dann nicht mehr alles.
Die Stadtbewohner werden sich zur Zeit eben mit den innerstädtischen Einrichtungen begnügen müssen. Wir haben ja genügend Gärten und Schwimmbäder und Sportanlagen und Restaurants und Theater. Ein Tourist könnte ohne weiteres seinen gesamten fünfzehnwöchigen Jahresurlaub in der Stadt verbringen, ohne daß ihn die Langeweile auch nur ein einziges Mal auf die Stadtoberfläche treibt. - Allerdings dürfte jemand, der für sein teures Geld in der einzigen Stadt der Erde Urlaub macht, sich schon beschweren, wenn er die ganze Zeit von der Erde überhaupt nichts sähe.
Ach ja, das Wasser eintrimmen. Was hat Rodrigo gesagt? Aufhören damit, und Fahrt nach Osten aufnehmen, dem Sturm vorneweg. Ich setze mich vor die Schalttafel. Im Prinzip kann ich es. In Simulationen habe ich alles oft genug gemacht.
Also. Hier sind die Anzeigen für die 28 nautischen Fleischmann-Pons-Reaktoren. Sie dienen nicht der Energieversorgung der Stadt, sondern ausschließlich dem Vortrieb. Vier sind in Betrieb, wenn auch nicht mit voller Leistung. Die Stadt fährt im Moment gerade nur so schnell, daß sie steuerbar ist. Nicht einmal Schrittgeschwindigkeit.
Wenn aber mit Vollgas gefahren wird, dann ist nicht nur die Energie aller Reaktoren notwendig, sondern auch die genaue Verteilung auf alle Vortriebsmaschinen, die überall unter dem Boden der Stadt mit ihren mächtigen Propellern das Wasser durchwühlen. Eine so große Konstruktion wie diesen Stadtkörper darf man nicht zu stark asymmetrisch belasten. Deshalb übernimmt der Rechner die genaue Lastverteilung. Er alleine hat die Übersicht über alle Verformungsmesser in der gesamten Stadt, und weiß, ob und wo gefährliche Streßmuster auftreten, die dann durch angemessenes Rauf- und Runtersteuern der verschiedenen Vortriebsmaschinen kompensiert werden müssen, immer natürlich unter Beibehaltung der Fahrtrichtung.
Wie das im einzelnem genau funktioniert, das haben wir während der Ausbildung einmal erläutert bekommen. Der Rechner kennt ein numerisches Modell der Stadt, das aus Millionen von Einzelteilen konstruiert worden ist. Die Lastanalyse auf dieses Modell wird durch die Methode der finiten Elemente durchgeführt, in jeder Sekunde einige tausend Male. Dabei werden auch Variationen der momentanen mechanischen Belastung, die mit großer Plausibilität eintreten werden oder sogar nur eintreten könnten, untersucht, und ebenso Veränderungen des mechanischen Aufbaus der Stadt selber. Dieser große Rechenaufwand bewirkt, daß die Stadt sich nicht selbst zerstört, was etwa bei ungleichmäßigem Betrieb der Vortriebsmaschinen oder ungleichmäßigen Fluten der Auftriebszellen leicht möglich wäre. Ein Mensch wäre mit dieser Aufgabe völlig überfordert. Und eine Konstruktion der Stadt, die diese aktive mechanische Unterstützung unnötig machen würde, hätte dreimal soviel Stahl und Beton und andere Rohstoffe benötigt und wäre auch nicht für Erweiterungen ausgelegt gewesen.
Zunächst müssen also alle Reaktoren angefahren werden. Es ist für mich sehr einfach - man muß nur die entsprechenden Symbole auf dem Bildschirm andeuten, bis sie heller aufleuchte. Um die komplexeren Vorgänge, die dadurch veranlaßt werden, brauche ich mich nicht zu kümmern: Das isotopenreine Normalwasser im Primärkreislauf durch die Palladiumdruckkammern wird durch hochreines Schwerwasser ersetzt und dann, wenn der Normalwassergehalt auf unmeßbar geringe Werte gefallen ist, unter Druck gesetzt. Bei etwa eintausendvierhundert Bar ist die Fusionsrate in den Kristallfehlstellen der Palladiumtitanlegierungen gerade hoch genug, um eine meßbare Erwärmung zu bewirken, bei Zweitausendfünfhundert Bar werden pro Kilogramm aktives Material etwas mehr als ein Kilowatt frei. Eine sehr sichere Konstruktion - fällt der Druck im Primärkreislauf ab, dann hört die Energieerzeugung sofort auf. Was das Schwerwasser natürlich nicht hindert, bei genügendem und plötzlichem Druckabfall explosionsartig aufzusieden.
Der Sekundärkreislauf sieht so aus wie bei allen Kraftwerken seit zweihundert Jahren - der übliche Wärmeaustauscher-Turbine-Generator Aufbau. Es wird noch etliche Minuten dauern, bis die anfangen, sich zu drehen. - Bei den Brauchenergiekraftwerken werden auch statt Turbinen Stirling-Maschinen verwendet, wegen ihrer großen Zuverlässigkeit. Da kann es schon passieren, daß ein ganzes Jahrzehnt so eine 100-MW-Stirling-Maschine von keinem Techniker angefaßt wird. Aber Turbinen haben ein besseres Leistungsgewicht und können schneller rauf- und runter gefahren werden. Deshalb überwiegen sie beim Antriebsbau.
Ich bin ein bißchen stolz. Ich weiß, daß ich jetzt die Erzeugung von einigen Gigawatt in die Wege geleitet habe. Diese Leistung wird die Stadt zwar nicht gerade durch die Wellen pflügen, und von einem Raumschiff aus der Erdumlaufbahn würde man mit bloßem Auge gar nicht sehen, daß die Stadt sich überhaupt bewegt, aber es ist doch schon so, als ob man Berge versetzen kann. 36 Kilometer pro Stunde, oder, rein rechnerisch, 45 Kilometer pro Stunde bei Verzicht auf den numerischen Lastausgleich. Eine fiktive Zahl, die man niemals im Experiment verifizieren kann, oder höchstens ein einziges Mal, wenn man die Stadt unbedingt zerreißen möchte.
Eigentlich kann ich auch gleich die Vortriebsmaschinen einschalten. Das geht genauso einfach wie das Einschalten der Reaktoren. Sie werden schon anfangen, sich zu drehen, wenn der Strom erst da ist. Das hast du gut gemacht, Joycelyn!
Nun beende ich den Wassereinlauf in die Auftriebtanks der Stadt. Ein neues Bildschirmdisplay - ich deute auf das blaue Feld 'Auftriebszellen dicht'. Das Symbol wird grün. Dann erscheint plötzlich, mitten auf dem Bildschirm, eine Schrift, die sich überhaupt nicht um das Layout der verschiedenen Dialogboxen kümmert. Es sieht sehr häßlich und falsch und unästhetisch aus:
RTS: 093942 URG UNIDENTIFIED TASKING_ERROR RTS: 047781 URG THIS IS AN INTERNAL SYSTEM ERROR PLEASE CONTACT YOUR SYSTEM ADMINISTRATOR IMMEDIATELY, REPEAT, IMMEDIATELY RTS: 093919 RECOVERING TO MAIN UIF. RTS: 091214 PROCESSING CONTINUES.
Ich starre den Bildschirm eine Weile an. Was soll das? Ich versuche das 'Situation Board' aufzurufen. Das funktioniert wie immer, die seltsame Meldung verschwindet vom Bildschirm, und ich kann mich genau über alle Schiffsparameter informieren. Der Spuk ist vorbei. Ich überfliege die Werte.
Es dauert ein paar Sekunden, bis ich bemerke: Die Ventile zu den Auftriebszellen sind offenbar nicht geschlossen worden. Immer noch laufen in jeder Sekunde 1250 Tonnen Seewasser ein. Da hat wohl irgendetwas nicht funktioniert. Ich probiere es noch einmal.
Alles funktioniert, bis ich wieder bei dem Dialogfeld für die Auftriebszellen bin. Dann heißt es wieder:
RTS: 093942 URG UNIDENTIFIED TASKING_ERROR RTS: 071008 URG REPEATED EXCEPTIONAL SITUATION RTS: 071408 URG SYSTEM MAY BE INCONSISTENT, ADVISE RESTART RTS: 071408 URG SYSTEM MAY BE INCONSISTENT, ADVISE RESTART RTS: 071408 URG SYSTEM MAY BE INCONSISTENT, ADVISE RESTART RTS: 047781 URG THIS IS AN INTERNAL SYSTEM ERROR PLEASE CONTACT YOUR SYSTEM ADMINISTRATOR IMMEDIATELY, REPEAT, IMMEDIATELY RTS: 093919 RECOVERING TO MAIN UIF. RTS: 091214 PROCESSING CONTINUES.
Es ist fast genau dasselbe wie vorhin. Und wieder kann ich mich überzeugen, daß das 'Situation Board' von meinen Versuchen, den Zufluß zu den Auftriebszellen zu drosseln, keine Kenntnis genommen hat.
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