3. Die Stadt
Immerhin, dieses ist die einzige Stadt dieser Art. Seit die Weltbevölkerungskonferenz von 2088 beschlossen hat, die Erde von menschlicher Besiedlung vollständig zu befreien (Was das Bonmot 'Weltentvölkerungskonferenz' geprägt hat), gibt es klassische Städte auf dem Land nicht mehr. Zwischen 2018 und 2088 gab es den Begriff der Ökoreserve. Von der Weltbevölkerungskonferenz wurde durchgesetzt, daß jedes Land mindestens die Hälfte seines Territoriums aus jeglicher landwirtschaftlicher oder industrieller oder besiedlungsmäßiger Nutzung freizustellen habe. Außerdem wurden sehr restriktive Obergrenzen für die Bevölkerungszahlen der einzelnen Nationen eingeführt und durchgesetzt. Das war die Zeit, in der das Wort 'Pronatalist', also die Bezeichnung für einen Menschen, der drei oder mehr Kinder gezeugt oder geboren hat, zu einem Schimpfwort wurde. Zu einem Schimpfwort und einem Programm - eben dem globalen Bevölkerungskontrollprogramm.
Dann, mit dem starken Aufleben der Raumfahrt um 2065 und der folgenden Besiedlung der Planeten verlegte sich der Bevölkerungschwerpunkt, dem Schwerpunkt der Industrie und den ökologischen Vorgaben folgend, in die außerirdischen Gebiete. Es war eine Kostenfrage - die umweltbedingten Restriktionen machten auf der Erde jede industrielle Tätigkeit zu teuer. Und die Weiterentwicklung der Fleischmann-Pons Reaktoren hatten die für die Nutzung der außerirdischen Gebiete notwendige Energie billig und überall problemlos verfügbar werden lassen.
Da die Bevölkerungsdichte auf der Erde immer weiter sank, schien es eines Tages opportun, die Erde, als Wiege der Menschheit, unter einen Generalnatur- und Denkmalsschutz zu stellen. Das war 2088. Der folgende Restexodus dauerte noch seine Zeit. Da gab es aber auch noch den Tourismus. Letzterer hätte eine völlige Entvölkerung der Erde unmöglich gemacht, wenn nicht um 2114 die ersten Sternenschiffe gebaut worden wären. Das lenkte das Interesse eines großen Teils der reisewilligen Bevölkerung in diese bisher unerreichten Fernen, und diese Gelegenheit nutzte man, den Naturparkstatus der Erde zu festigen. Außerdem gab es, als touristische Alternative, bereits Orbitalstädte mit beträchlichen ausgedehnten Naturparks und Wildlandschaften.
Die schwimmende Stadt war die einzig übriggebliebene Besiedlung. Sie war organisch im Laufe der Zeit aus einzelnen schwimmfähigen Segmenten zusammengewachsen, beherbergte eine Zeitlang den größten Raumhafen der Erde und wurde dann allmählich zu einer schwimmenden Hotelstadt umfunktioniert. Das öde, weite Raumhafengelände und die kahlen Werkshallen waren inzwischen längst einer aufgelockerten Waldlandschaft auf der Oberfläche der Stadt und einer Atmosphäre des gepflegten Luxus im Inneren gewichen. So beherbergte sie den gesamten Touristenstrom von den Außenwelten. Landexkursionen an ausgewählten, ökologisch unbedenklichen Plätzen, Überfliegungen von ausgewählten Landschaften und Luxus innerhalb der Stadt selbst waren die Attraktionen. Wer es sich leisten konnte, lebte ständig hier. Damit war die Stadt die Manifestation des Wunsches eines Teils der Menschen nach ihrem Planeten. Heutzutage können sich nicht viele Menschen die Erfüllung dieses Wunsches leisten, jedenfalls nicht auf Dauer.
Die Stadt hat keinen Namen bekommen. Da es jetzt nur noch eine derartige Stadt gibt, braucht sie auch keinen. Es hat damals Streitereien um den Namen gegeben, die niemals in einen Konsensus mündeten. So ließ man es dann.
Die Stadt ist auf allen Weltmeeren zu Hause. Ihr eigener Antrieb läßt maximal eine unbedenkliche Geschwindigkeit von 36 Stundenkilometern zu, meistens jedoch wird sie mit wesentlich geringerer Geschwindigkeit gesteuert. Es dauert im allgemeinen einige Jahre, bis sie nacheinander alle Ozeane der Erde aufsucht hat. Dem Land darf sie sich aber nirgends auf Sichtweite nähern, um eine Wechselwirkung der Bordflora und Fauna mit den Biotopen des Festlandes zu vermeiden.
Wenn sich die Stadt in den gemäßigten Breiten aufhält, dann wird sie von vielen Raumschiffen angesteuert, die den Verkehr mit der Außenwelt aufrechterhalten. Touristen kommen und gehen, Industriegüter werden geliefert und Problemabfälle werden entfernt. Ein Teil der Stadtoberfläche wird dann als Raumhafen genutzt, bis auf die ganz schweren Schiffe, die im Wasser landen können. Selbst unter diesen günstigen Umständen ließe sich eine Evakuierung der Stadt durch Raumfahrzeuge höchstens in vielen Wochen bewerkstelligen, und die Kosten wären enorm.
In höheren Breiten der Erde jedoch, wie hier im Nordatlantik, ist der Verkehr mit den Außenwelten sehr stark eingeschränkt. Auf oder neben der Stadt zu landen ist viel zu gefährlich, und etwa das Übersetzen vieler Menschen in ein da draußen, in diesen Wogen schwimmendes Raumschiff wäre mit Verlusten verbunden. Dazu kommt noch, daß der Plan einer Evakuierung 'nach oben' nicht aus dem Stand in die Wege geleitet werden kann. Die im ganzen Sonnensystem verteilten, geeigneten Raumschiffe müßten ja erst einmal Kurs auf die Erde nehmen. Das dauert Monate, bis auch die letzten hier sind. In der Zeit würde die Stadt bei ihrer gegenwärtigen Sinkgeschwindigkeit nicht mehr existieren.
Um die Evakuierung mit Bordmitteln steht es genauso schlecht. Es gibt Boote und Flugzeuge, die für die verschiedensten touristischen Unternehmungen eingesetzt werden können. Aber es sind zu wenige, um die gesamte Bevölkerung der Stadt über große Entfernungen etwa auf das Festland zu verfrachten. Und unter den herrschenden Wetterbedingungen ist dieses Unternehmen sowieso aussichtslos. Die Flugzeuge zum Beispiel sind zum größten Teil mit Schwimmern ausgerüstet, um nicht noch mehr Landebahnen auf der Oberfläche der Stadt unterhalten zu müssen. Diese Flugzeuge brauchten eine ebene Wasserfläche zum Landen und zum Starten. Nicht diese fünfzehn Meter hohen Wasserberge da draußen, die so aussehen, als wollten sie die Bordwände der Stadt zerschlagen und tausende und abertausende Tonnen Wasser in die Gänge und Anlagen der Stadt werfen, wenn man sie nur ließe.
Wie man das Problem auch wendet, es bleibt immer dabei: Eine irgendwie geartete Evakuierung ist nicht machbar. Das Überleben der ganzen Stadtbevölkerung hängt von der Unversehrtheit der Stadt selbst ab.
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