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40. Literaturstudium
Ich bin überhaupt nicht müde, wie zu erwarten. Deshalb verlasse ich meine Kabine wieder, nachdem Natalie leidlich tief eingeschlafen ist, um dabei nicht wieder aufzuwachen. Auf der Konsole in der Kabine möchte ich nicht arbeiten, erstens, weil Natalie dabei wieder geweckt werden würde, und zweitens möchte ich wegen der Schlagseite einen Sitz haben, auf dem man sich anschnallen kann.
In der Zentrale sind Konsolen genug frei. "Muß ein paar Dinge nachlesen!" sage ich zu Jeffrey Garner, der Wache hat. Der nickt nur gleichgültig und wendet sich wieder seiner eigenen Konsole zu.
Ich muß den Index für die Fachliteratur besser kennen lernen. Ich habe gehört, daß man, wenn man den sehr virtuos verwenden kann, schnell alles findet, was man sucht. Ich bin allerdings noch weit vom Stadium der Virtuosität entfernt.
Trotzdem stelle ich schnell fest, daß die volle, dem System angemessene Bearbeitung der Fachliteratur nicht erfolgt ist - wie sollte das auch sein? Es ist zum Beispiel so: Man liest normalerweise ein Fachbuch und findet etwa eine Fußnote, die auf ein anderes Fachbuch verweist. Das kann man sich dann holen und auch aufschlagen und nebenher lesen, oder hier und dann dort und dann wieder hier lesen. Das geht natürlich mit dem Rechner auch. Aber es sollte sogar noch einfacher gehen: Ein kurzer Klick mit dem 'pointing-device' auf eine Fußnote, und ein zweites Fenster mit dem Anfang des gewünschten Buches springt auf. Oder ein Klick auf einen Fachbegriff, und ein ganzes Auswahlfenster erscheint, in dem man weiteren Lesestoff finden kann.
Damit das funktioniert, muß entweder die Literaturangabe sehr präzise sein - sonst findet der Rechner das Buch nicht und macht höchstens eine Vorschlagliste - oder parallel zu der Fußnote ist eine interne 'Verweisbeschreibung' Bestandteil des Textes, den man gerade liest. Diese Verweisbeschreibung sieht der Leser zwar nicht, aber der Computer wird dadurch zu dem richtigen Buch geführt. Diese Verweisbeschreibung muß aber irgendwann einmal jemand eingerichtet haben, der den Text laß, verstand, was dort geschrieben steht und insbesondere verstand, welche Referenz tatsächlich gemeint ist. Dann kann man diese Verweisbeschreibung einsetzen. Sogar der nachträgliche Leser kann das, wenn er sich die Mühe macht.
Die gesamte existierende Fachliteratur der Welt mit Verweisbeschreibungen zu instrumentieren war natürlich nicht möglich. Wissenschaftler hätten Hunderttausende von Mannjahren dransetzen müssen. Wer sollte so etwas bezahlen? Und so kommt es, daß man sich häufiger etwas mehr Arbeit machen muß, um bis zur gewünschten Information vorzudringen.
Außerdem besteht natürlich immer die Gefahr, daß irgend so ein Kindskopf Verweisbeschreibungen eingebaut hat, die völlig in die Irre führen. Technisch kein Problem, den Leser aus einer Abhandlung über die Qualitätsprüfung von Walzstählen direkt nach Grimm's Märchen zu führen!
Über solche getürkten Querverweise stolpere ich heute nicht. Aber es dauert trotzdem etwas, bis ich das finde, was ich suche,
Zum Beispiel möchte ich etwas über Unterwasserexplosionen bei hohen Wasserdrucken, also in großen Tiefen wissen. Da wird es natürlich kaum etwas geben, denn wer interessiert sich schon dafür? Was sicher hinreichend in der Literatur beschrieben worden ist, sind die Explosionen in geringen Wassertiefen, und da handelt es sich um militärische Fachliteratur. Logisch: Die meisten Unterwasserexplosionen, die bisher auf der Welt stattgefunden haben, dürften Wasserbombenexplosionen gewesen sein.
Da finde ich zum Beispiel von einem Robert H. Cole "Underwater Explosions". Der Text ist digitalisiert aus einem Buch der Dover Publications entnommen worden. Von dem Verlag habe ich noch nie etwas gehört, aber thematisch scheint es das zu sein, was ich suche.
Eine Menge Grafiken und Formeln, aber auch ein paar Photographien. Ganz hinten finde ich dann einen Absatz: 'General Considerations in Underwater Explosion Damage'. Genau das ist jetzt interessant. Aber als ich die Seiten über den Bildschirm huschen lasse, finde ich nichts über Tiefenabhängigkeit der Wirkung von Unterwasserexplosionen. Um das ganze Buch durchzulesen habe ich aber nicht die Zeit.
Es muß eine Tiefe geben, denke ich mir ganz naiv, in der mit chemischen Sprengstoffen kaum noch eine Wirkung zu erzielen ist, nämlich dann, wenn die Drucke im explodierenden Sprengstoff von der Größenordnung der herrschenden Außendrucke sind. Da aber mit einem chemischen Sprengstoff Drucke um die fünfzigtausend Bar erreicht werden, was einer Meerestiefe von 500 Kilometern entspricht, werden wir solche Effekte nie beobachten.
Ich suche weiter. Cole's Buch hat eine eindrucksvolle Literaturliste, aber es handelt sich um so viele Einträge, daß ich dann doch keine Lust habe, gezielt zu suchen. Was haben sie denn noch hier? Gibt es Bücher, die sie uns vorenthalten? Mal sehen, ob sie Glasstones "The Effect of Nuclear Weapons" haben.
Sie haben es. Nützt mir aber nichts, weil wir keine Kernsprengkörper an Bord haben. Ich stelle aber fest, daß es sehr viele Bücher und Schriften über die Technologie von Kernsprengkörpern gibt, die eigentlich der Geheimhaltung unterliegen sollten. Vielleicht tun sie das auch noch - was an Bord der CHARMION verfügbar ist, muß draußen noch lange nicht erhältlich sein.
Da springt mir der Name 'Joseph Priest' ins Auge. Ob das unser Kollege hier an Bord ist? Mal sehen: 'The design and construction of military warheads using plutomium-isotopes 240/242'. Veröffentlicht vor zwei Jahren. Kann nicht sein - Reaktortechnik ist doch nicht das Fachgebiet von unserem Kollegen Joseph Priest, oder? Ich lese den Artikel an.
Die Problematik ist mir bekannt - Jeder Physiker, der sein Diplom nicht von der Lotterie erhalten hat, sollte sie kennen:
In zivilen Leichtwasserreaktoren entsteht bei der Kernspaltung als Spaltprodukt Plutonium. Dieses Plutonium ist aber reich an den Plutonium-Isotopen mit 240 oder 242 Nukleonen im Atomkern. Aus diesem Plutonium kann man keine Bomben bauen, weil die Rate des Spontanzerfalles bei diesen Isotopen viel zu hoch ist - in der Mikrosekunde, wo man versucht, eine überkritische Masse aus diesem Material zusammenzusetzen, geht die Kettenreaktion bereits los, und statt der großen Explosion erhält man nur eine bescheidene Verpuffung - es ist zwar immer noch eine große Katastrophe, einige Kilogramm verdampftes Plutonium freizusetzen, aber es ist nicht die erwartete, große nukleare Explosion.
Aus diesem Grunde bezeichnet man diese Plutonium-Isotope als 'nicht waffenfähig'.
Dieser Priest - ob es nun unser Kollege ist oder nicht - hat aber eine Methode entwickelt, wie es doch geht. Es ist sogar genial einfach. Er nennt es die CRG-Bombe - 'Criticality Ramp Generation'. Und das geht so:
Die Bombe sieht zunächst einmal so aus, wie eine Plutonium-Bombe immer aussieht: Eine Hohlkugel aus Plutonium, drum herum eine Sprengstoffschicht. Wenn letztere explodiert, wird die Plutonium-Hohlkugel zusammengepreßt, und dadurch steigt ihre sogenannte Kritikalität - ein Neutron wird mit immer höherer Wahrscheinlichkeit eine weitere Kernspaltung auslösen, je weiter die Plutonium-Hohlkugel zusammengepreßt wird. Wenn, im idealen Falle, nämlich mit Plutonium 239, das Plutonium sich in der Mitte der Anordnung als Vollkugel vereinigt hat, dann erzeugt jede Kernspaltung im Mittel weitere 1.4 Kernspaltungen. Und das dauert 7 Nanosekunden.
Der Rest ist Kopfrechnen: In 14 Nanosekunden hat jede Kernspaltung also zwei Folgespaltungen. Nach 140 Nanosekunden sind es tausend, nach 280 Nanosekunden eine Million und nach 420 Nanosekunden eine Milliarde Folgereaktionen - eben alle 14 Nanosekunden eine Verdoppelung. Bevor eine Mikrosekunde um ist, ist, rechnerisch, bereits der größte Teil des Plutonium gespalten. Die nukleare Detonation ist in vollem Gang.
Mit Plutonium 240 / 242 kommt es jedoch gar nicht soweit, weil schon vor der vollständigen Kompaktierung die Kettenreaktion begonnen und die ganze Anordnung sich recht halbherzig zerlegt hat.
Da greift Priest's Design ein. In seiner Plutonium-Hohlkugelschale sind kleine Hohlkugeln aus einem gut neutroneneinfangendem Material eingelagert - welches, sagt er nicht, aber da gibt es ja nur ein paar Kandidaten. Diese Hohlkugeln fangen zunächst einmal recht wirkungsvoll die meisten Neutronen ab. Wenn der äußere Mantel aus chemischem Sprengstoff also explodiert ist und die Plutonium-Hohlkugel kontrahiert, passiert zunächst einmal gar nichts. Bis die Kritikalität während dieses Kontraktionsvorganges gerade eben eins erreicht.
Nun beginnt die schon bekannte, halbherzige Kettenreaktion, da bei diesen Plutonium-Isotopen immer einige Neutronen aus Spontanspaltungen vorhanden sind. Ohne die Hohlkugeln aus dem neutronenabsorbierenden Material würde das Ganze wieder in einer unspektakulären Verpuffung enden.
Diese kleinen Hohlkugeln aber werden nun durch den steigenden Druck zusammengepreßt. Das geschieht sehr schnell, weil sie ja sehr klein sind, verglichen mit den Abmessungen der Plutonium-Hohlkugeln. Und weil sie zusammengepreßt werden, stehen sie plötzlich den Neutronenschauern in der Plutonium-Masse nicht mehr so sehr im Weg - die Kritikalität ist deutlich angestiegen, zwar nicht auf 1.4, sondern bloß auf 1.1 oder so, aber das reicht: Die Neutronendichte steigt im Laufe einiger hundert Nanosekunden auf immense Werte - wie bei einer normalen Atombombe eben.
Das ist der ganze Trick: Die beginnende Explosion selbst ist es, die das sie hemmende Hindernis der Neutronenabsorber beiseiteräumt. Und dann kann sie nichts mehr aufhalten. Zwar verwirbelt sich das neutronenabsorbierende Material in dem Plutoniumgas vollständig, aber das macht nichts mehr aus, weil jetzt so viele Neutronen vorhanden sind, daß dieses Material völlig verbraucht wird.
Auf diese Weise kann man, trotz des völlig ungeeigneten Kernsprengstoffes, Bomben mit einer Ausbeute von einigen Kilotonnen TNT-Äquivalent bauen. Auf das Problem, diese Bombe zu kühlen, bevor sie explodieren soll - die hohen Plutonium-Isotope entwickeln nämlich eine ganz schöne Zerfallshitze, die abgeführt werden muß - geht Priest nicht ein. 'Das überlassen wir als Übung dem Leser' - so eine Floskel steht oft an der Stelle einer wissenschaftlichen Abhandlung, wo es dem Autor einfach zu aufwendig und zu mühsam war, weiter zu machen. Hier ist dieser alberne Satz wenigstens nicht zu finden.
Im zweiten Teil des Artikels geht Priest auf Sprengkörper mit dem normalen, waffenfähigen Plutonium ein. Die kann man nämlich mit diesem Bauprinzip auch verbessern. Und verkleinern. Man kann sie sogar so klein machen, daß man sie in einem 8-cm-Torpedo unterbringen kann.
8 Zentimeter? Das ist der Durchmesser unserer seismischen Torpedos! Die werden doch nicht etwa - Ich lese weiter.
Viel mehr an Informationen bringt der Artikel nicht. Das Institut, in dem dieser Joseph Priest arbeitet und in dessem Auftrag er diese Veröffentlichung geschrieben hat, ist mir völlig unbekannt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Eigentlich ist das ja ein Rezept für Dritte-Welt-Diktatoren, die die Bombe haben möchten und sie noch nicht haben. Andererseits - auch, wenn es prinzipiell möglich ist, aus dem Abbrand ziviler Leichtwasserreaktoren noch genügend Bombensprengstoff zu gewinnen, so scheinen mir Bomben mit hohem Plutonium-Isotopen doch reichlich unpraktikabel. Welcher General würde eine Waffe einsetzen, die permanent die eigene Truppe bedroht, und die ständig einen großen Wartungsaufwand erfordert? Da erscheint mir der zweite Gedankengang, der zu weiterer Verkleinerung der bekannten Bombendesigns führt, schon interessanter.
Ich blättere die Seiten noch einmal durch. Priest hat viele numerische Simulationen gemacht, um die günstigsten Geometrien für seine Bombe zu ermitteln: Durchmesser dieser Hohlkugeln aus dem neutronenabsorbierenden Material, ihre Wandstärke, ihre Verteilung in dem Plutonium. Alles Kleinarbeit, die man sich nicht machen würde, wenn man sich nichts davon verspräche. Also sieht es doch so aus, als ob dieser Artikel doch ein bißchen mehr als eine intellektuelle Fingerübung ist.
8-cm-Torpedos. Der einzige Hinweis auf einen Zusammenhang mit uns. Und der Name des Autors natürlich. Kann das sein? Unser Priest, ein ehemaliger Bombenbauer? Ich weiß wenig über ihn. Kaum Kontakt. Ob ich ihn direkt fragen soll?
Was ist hier los? Der Abend ist spät, und inzwischen zwingt mir mein Tagesrhythmus doch eine gewisse Müdigkeit auf. Sehe ich deshalb Gespenster?
Bloß, weil dieses Boot 8-cm Torpedos hat, und bloß, weil es Kernwaffen mit diesen Abmessungen - vielleicht - gibt, brauchen wir diese noch lange nicht an Bord zu haben. Aber bin ich wirklich sicher? Nach allem, was passiert ist? Die Direktive q78q99q ist ja auch nicht völkerrechtskonform. Und, wenn wir schon einmal dabei sind, ist unsere ganze Expedition völkerrechtskonform? Was hat die EG vor?
Ich lehne mich zurück. Garner achtet nicht auf mich, ich glaube, er spielt ein Computerspiel. Soweit sind wir noch nicht, daß jemand auf meinem Gesicht lesen könnte, was ich denke.
Krankheitskeime aus der Welthöhle holen - das macht noch Sinn. Es ist kriminell und unethisch, aber es ist denkbar, daß es in der EG-Verwaltung eine Instanz gibt, die trotz allem genau dieses beschlossen hat. Gut. Aber Kernwaffen an Bord? Quatsch. Die nützen niemandem. Welche Gefahren uns auch drohen, ob in der Welthöhle oder auf dem Wege dahin - eine Kernwaffe ist da nie das Mittel der Wahl. Herrgott, es gibt ja noch mehr Gegenstände, die einen Durchmesser von 8 Zentimetern haben - sei vernünftig, Herwig! Sogar die Namensähnlichkeit - so ein seltener Name ist das nicht, weder 'Joseph', noch 'Priest'.
Ich denke an die politische Entwicklung der letzten Jahre. Sie gefällt mir nicht. Diese ganze Europa-Euphorie. Abgabe von Kompetenzen der nationalen Parlamente an die EG-Behörden, die nie so richtig demokratisch gewählt worden sind, immer noch nicht. Zentralisierung. Bürokratisierung. Die ganze EG ist ein schwerfälliger Koloß. Nachdem die Nachfolgestaaten der Sowjetunion den Zentralismus abgeschüttelt haben, ist es doch nicht einzusehen, warum wir ihn noch einmal ausprobieren müssen. Worauf hat der Wähler in Europa denn noch Einfluß? Unsere Mission, zum Beispiel. Mit welchem Recht wird da soviel Geld ausgegeben? Und mit welchem Recht wird das Ganze geheimgehalten?
Morgen werde ich den Priest fragen, ob er etwas mit dem Artikel zu tun hat. Jetzt bin ich zu müde. Ich stemme mich steif aus meinem Sitz hoch.
Ich möchte ins Bett. Zu Natalie.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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