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36. Wassereinbruch

Wir beratschlagen noch eine Weile, aber da wir keine Idee haben, was diese Meldung bedeuten könnte, können wir auch ebensogut essen gehen. Ich muß vorher noch pinkeln. Beide Kantinen-Toiletten sind belegt, also mache ich mich auf den Weg zu den Toiletten im zentralen Niedergang. Auf dem Rückweg durch unseren Gang - es hat sich praktisch eingebürgert, daß jeder zwischen Kantine und zentralem Niedergang immer den Gang nimmt, an dem seine Kabine liegt - tritt plötzlich Gabi Gohlmann aus ihrer Kabine heraus und sieht mich:

"Oh, das trifft sich gut - kannst du mir mal helfen?"

"Ja, sicher! - Wobei?"

"Komm besser rein!" sagt sie. Sekunden später stehen wir in ihrer Kabine. Wie immer ist es eng, wenn zwei Menschen sich weniger als zwei Kubikmeter teilen. Ihre Kabine ist aufgeräumt, aber das ist meine auch: Wenn man in vier Kubikmetern wohnt, und man läßt zwei oder drei Dinge irgendwo liegen, dann liegen diese zwei oder drei Dinge dauernd im Wege. Man hat gar keine andere Möglichkeit, als Ordnung zu halten. In Natalie's Kabine sieht es genauso aufgeräumt aus - andere habe ich noch nicht von innen gesehen.

"Ich habe heute noch was vor." erklärt sie.

"Was denn?"

"Was Privates!" sagt sie.

"Soll ich nicht fragen?"

"Lieber nicht. - Ich komme nur mit dem Lippenstift nicht klar, das ist alles!"

Ich begutachte ihr Gesicht: "Finde ich nicht. Ist doch perfekt. Man merkt gar nicht, daß du welchen aufgetragen hast!"

Und wenn man es nicht merkt, denke ich, dann kann man es auch gleich ganz sein lassen. Und wozu auch - die paar Falten, die ihrem Alter gemäß sind, die stehen ihr gut. Sie ist auch ohne Chemie hübsch - was soll das also? Aber ich habe jetzt nicht die Absicht, eine Grundsatzdiskussion über Kosmetik anzufangen. Auch Irene hat da in ganz anderen, für mich nicht nachvollziehbaren Bahnen gedacht.

"Nein, das meine ich nicht!" sagt sie. Dann knöpft sie das Oberteil ihres Kleides auf. Einfach so. Sie trägt wie immer keinen BH. Ich muß wohl etwas verwundert geguckt haben.

"Ich kann da nicht richtig hinsehen, und dann geht es immer daneben!"

Ich begreife: "Malst du dir die Brustwarzen an?"

"'Anmalen'! Wie klingt denn das!"

"Wie nennt man das denn?"

"Sie werden getönt. Hier: Warzen und der Hof drumrum. Aber es muß natürlich gleichmäßig aussehen, und diese Kabinen sind so klein, daß man sogar im Spiegel einen ungünstigen Blickwinkel hat."

"Okay," sage ich, "gib her. Eine neue Erfahrung. Auf der Brust einer Frau habe ich noch nie - getönt!"

"Du kannst auch 'gemalt' sagen, wenn dir das lieber ist! - Da, am Rande des Hofes sind so kleine Hauthügel. Bis dahin! Und kreisrund! Und gleichmäßig!"

"Tue ja alles für eine Kollegin." sage ich, als ich mich an die Arbeit mache.

"Wirklich?" fragt sie.

Während ich, in einer unbequemen, halbknieenden Haltung versuche, ihre Brust nach ihren Wünschen zu behandeln, überlege ich, mit wem sie etwas vorhaben könnte. Mir ist überhaupt noch nicht aufgefallen, daß sie ein Auge auf jemanden geworfen haben könnte, oder jemand auf sie. - Jedenfalls überläßt sie nichts dem Zufall, dieser gründlichen Vorbereitung nach zu schließen.

"Der Untergrund muß sauber, trocken, und fettfrei sein." zitiere ich irgend eine Gebrauchsanleitung für Farben. Der Scherz kommt aber nicht an. Na, dann eben nicht.

Ganz schwach rieche ich einen feinen Duft. Den habe ich doch schon einmal wahrgenommen, oder? Wann war das noch? Jedenfalls nimmt sie auf unsere Klimaanlage Rücksicht - es ist wirklich nur die Ahnung eines Duftes.

"Das kitzelt!" sagt sie. Zum Beweis richtet sich die Warze, die ich gerade bearbeite, auf.

"Dafür kann ich nichts. - Himmel, ich stoße dauernd irgendwo an!"

"Warte," sagt sie, "ich setze mich hin, und dann kannst du dich hinknien - das ist ein bißchen bequemer." Als wir das getan haben, fragt sie: "Hast du genug Licht?"

"Jaja, daran liegt es nicht."

"Sondern?"

"Die Haut dellt sich unter dem Stift immer so weit ein - und dann stimmt die Geometrie nicht mehr!"

"Ich glaube, du machst das schon ganz gut - jedenfalls besser, als ich es könnte. - So, jetzt die andere."

"Symmetrisch, vermute ich?"

"Ja, natürlich - sind meine Brüste etwa unsymmetrisch?"

"Nein nein. Die sind perfekt."

"Findest du?" fragt sie. Jetzt stellt sich auch die andere Brustwarze auf. Nun sind sie tatsächlich symmetrisch. - Wahrscheinlich könnte man aus der weiblichen Fähigkeit zur asymmetrischen Erektion der Brustwarzen einen Kalauer oder eine wüste Zote schmieden, aber mir fällt gerade keine ein.

"Jaja, doch doch." sage ich, "Das kann ich beurteilen. Als jahrelanger Playboy-Leser habe ich Vergleiche."

"Ja. - Jaja! Du hast hier an Bord aber auch schon verglichen, nicht wahr?"

"Ja," sage ich, "das mußte jetzt ja kommen. Die Sache mit Natalie. Das wird mir noch ewig lang nachhängen."

"Ihr wart nicht gerade eben diskret!"

"Es hat sich eben so ergeben. - Wenn die Sache mit dem Torpedo nicht gewesen wäre, dann wäre ja niemand in die Zentrale gekommen - nicht um die Zeit."

"Magst du sie?"

"Mmh. - Halt doch still! - Vielleicht. - Ja."

"Mmh. Ernsthaft?"

"Was ist das: 'Ernsthaft'?"

"Geht mich ja nichts an."

Ich könnte jetzt sagen, daß genau das in der Tat der Fall ist. Aber irgendwie geht mir dieser 'Buoyancy Control Driver' im Kopf herum. Ich habe den Verdacht, daß da etwas faul ist. 'Replaced'. Wieso wird ein Server replaced, das heißt ersetzt? So etwas macht nur der Systemverwalter - und das sind Carola, Edwin und vielleicht auch ich.

"So. - Ich glaube, ich bin fertig." sage ich, "Es erscheint mir perfekt. - Ist dieser Lippenstift kußecht und geschmacksneutral?"

"Sicher," sagt Gabi, "probier's halt aus!"

"Na hör mal! Es ist schon - seltsam - genug, einer Kollegin die Brust anzumalen - aber jetzt kann ich dir doch nicht auch noch die Brust küssen!"

"Ekelst du dich davor?"

"Nein, ganz gewiß nicht!"

"Na, also!"

"Und wenn's wieder verschmiert?"

"Der ist 'kußecht', sage ich dir. Und wenn er es nicht ist, dann ist es besser, wir kriegen das jetzt heraus als nachher!"

Hört sich logisch an. Natürlich täte mich schon interessieren, wann das ist: 'nachher' - und mit wem.

"Also halt still!" sage ich und bringe mein Gesicht in den Ausschnitt ihres Kleides, "Wenn es verschmiert, dann machen wir es eben noch mal."

Ich setze meine Lippen ganz leicht auf die Warze ihrer rechten Brust, wobei ich ihre Taille umfassen muß. - Ich muß das einfach ganz sachlich sehen, denke ich mir, unter klinischen Gesichtspunkten. Und ich muß sehr zart vorgehen, damit es wirklich nicht verschmiert - ich möchte heute noch zum Essen kommen und nicht den ganzen Abend malen müssen.

Da spüre ich ihre Hand im Nacken, die meinen Kopf fester gegen ihre Brüste drückt. Ihre andere andere Hand ist kurz darauf hinter meinem Rücken. Der Test auf Kußechtheit dauert länger als ich das geplant hatte. Sie führt meinen Kopf mit leichten, kreisenden Bewegungen.

"Man muß es richtig machen, sonst ist es kein Test!" sagt sie. Wie wahr. Aber ihre Stimmenlage hat sich irgendwie geändert. Und plötzlich rutschen meine Arme um ihre Taille herum, weil mir das als die natürlichere Position erscheint.

"Jetzt muß ich vergleichen!" sage ich, als ich meinen Mund wieder frei bekomme. Sehr weit von sich weg läßt sie mich nicht.

Sehr weit weg von ihr will ich eigentlich auch nicht. Ihre Brüste, stelle ich fest, sind wirklich niedlich geformt - klein aber fein. Auch die Idee, der Farbtönung da nachzuhelfen, hat etwas für sich - durchaus. Wahrscheinlich, denke ich, ist jede zweite der im Playboy abgebildeten Miezen so zurechtgemacht. Könnten sie eigentlich dazuschreiben - das wäre nur konsequent, denn technische Maße geben sie ja auch an. Wie würde man das formulieren? 'Lackiert mit einem Produkt der Firma ...'

"Was lachst du?" fragt Gabi.

"Ich dachte nur gerade an etwas. - Gut. - Also - die Tönung ist etwas schwächer geworden." stelle ich sachlich fest.

"Ja. Das ist normal." antwortet sie, genauso sachlich, "Man muß beide Brüste gleich behandeln. Dann stimmt's wieder." Ohne weitere Umschweife drückt sie mich gegen ihre linke Brust. - Sie drückt stärker als beim ersten Male. Ich auch.

Und dann hört sie überhaupt nicht mehr damit auf.

"Weißt du jetzt, was ich vorhabe?" fragt sie leise. Nach einer Weile aber erst.

Was ist jetzt eigentlich los? Hat sie umdisponiert, oder bin ich das Opfer eines mittelplumben Anmachversuches, so konkret, wie sie jetzt wird? Oder wie soll ich die Situation sonst interpretieren? - Ich bekomme meinen Mund wieder frei: "Gabi, wir können das jetzt nicht tun!"

"Warum nicht?"

"Erstens wollte ich beim Essen mit meinen Kollegen noch über einige Dinge reden - wir haben da ein Problem!"

"Ach was, Problem. Das kann doch warten!"

"Und zweitens ..."

"Außerdem hast du versprochen, mir zu helfen!" unterbricht sie, "Wir sind noch gar nicht fertig!"

"Was denn noch?"

"Ich habe noch eine Stelle, wo ich selbst sehr schwer hinsehen kann - da muß mir auch jemand anders das Rouge auftragen! Und wo du jetzt schon mal da bist ..."

Einen Moment muß es mir wohl die Sprache verschlagen haben.

"... und testen!" fährt sie fort. Dann lehnt sie sich etwas zurück und beginnt, ihr Kleid von unten in Richtung Gürtel aufzuknöpfen, so, wie sie es schon von oben gemacht hat.

"Hilf mir doch!" sagt sie, "Dann geht es schneller." Sie drückt mich leicht an der Schulter tiefer. Schon sehe ich, daß sie dunkle Seidenstrümpfe trägt. Aber bevor ich sehe, was sie weiter oben trägt oder nicht trägt, und bevor ich etwas sagen kann, heulen die Alarmsirenen auf. Einen Moment lang erstarren wir beide.

Auf dem SISC blinkt eine gelbe, unübersehbare Warnschrift auf:


        BUOYANCY LOSS - CREW TO EMERGENCY STATIONS

"Scheiße, verdammte!" rufe ich und springe auf, wobei ich mich natürlich irgendwo stoße, "Scheiße zu Pferde!" Konkreteres kann ich noch nicht sagen.

Im Augenblick bin ich aus Gabi's Tür raus. Dabei stoße ich mit Carola zusammen, die aus Richtung der Kantine gerannt kommt. Ihr Gesicht ist angstverzerrt. "Wir haben vorne einen Wassereinbruch!" ruft sie mit Panik in der Stimme. Sie zwängt sich an mir vorbei.

Ein paar Meter hinter ihr ist Natalie, die auch in Richtung Zentrale läuft. Beide Frauen haben jetzt völlig überflüssigerweise gesehen, daß ich aus Gabi's Tür herauskam. Und beide sehen auch Gabi selbst, die auch mit ängstlichem Gesicht - und unübersehbar oben und unten offenem Kleid - in den Gang hinausblickt.

Aus der Richtung der Kantine kommt ein brüllendes Zischen, begleitet von einem dröhnenden Scheppern. Es ist entsetzlich laut und es wird, während ich hinhöre, noch lauter.

Ich laufe in die Kantine. Ich will wissen, was los ist. Dabei merke ich bereits, daß es nach dorthin leicht abwärts geht. Diese Neigung des Bootes nimmt jede Sekunde zu.

Plötzlich ist Wellington's Stimme im Raum: "Achtung, herhören! Boot führt Notmanöver aus - Festhalten! - Achtung, Notmanöver - Festhalten!"

'Notmanöver' sagt er, nicht 'Sicherheitsmanöver'.

Ich stehe in der Kantine und halte mich an der Spantenscheibe fest. Was ist los? Ich verstehe nichts. Einige von den Nautischen sind noch da. Das Luk von der Kantine zu dem Betriebsraum davor ist offen - von dort her kommt der höllische Lärm. Ich kann nicht erkennen, ob jemand im Bugraum ist.

6700 Meter, denke ich - das sind 685 Bar oder so. Unglaublich viel. Wenn da wirklich ein Wassereinbruch ist - wie haben wir dann eine Chance?

Das Deck neigt sich bereits 20 Grad abwärts. Mark Dauphin taumelt auf mich zu. Im Moment sieht er nicht so aus, als ob er stolz auf das Boot ist.

"Unkontrollierter Wassereinlaß in die vorderste Regelzelle! Gehen sie nach hinten!"

Er ruft es mehrere Male, bis ich ihn verstehe. Wasser in die Regelzellen - deshalb ist also noch kein Wasser zu sehen. Aber das kann nur eine Frage der Zeit sein, denn die Regelzellen sind natürlich nicht druckfest. Irgendwann sind sie voll, und dann bersten sie, oder ein Sicherheitsventil spricht an - was letzten Endes gleichgültig ist. Wenn Wasser in die Regelzellen einläuft, ohne daß man es stoppen kann, dann ist das Boot verloren!

Ich halte mich fest. 35 Grad über den Bug. Nein, ich muß rauf in unseren Arbeitsraum - dieser Server für die Regelzellen - ist das der Grund? Das muß es sein!

Die Leiter des Aufganges zu unserem Labor hängt über - nur mit Mühe komme ich hoch. Kaum, daß ich oben bin - 40 Grad Neigung über den Bug inzwischen - reißt mich ein Stoß von den Füßen. Fast wäre ich durch die Öffnung des Niederganges und quer durch die Kantine geflogen. Ich kann mich noch an den seitlichen Handgriffen festhalten - gerade eben. So eine blöde Sache, denke ich, bei so etwas kann man sich leicht das Genick brechen - die Fallhöhe hätte ja schließlich der Diagonalen des Kantinenraumes entsprochen. Der Ärger auf mich selbst bohrt in meinem Bauch.

Dann - Blitzartige Gedanken in meinem Kopf: Der Druckkörper kann ungeheure statische Drücke aushalten - weit jenseits der Werftgarantie - aber keine solchen Schläge. Wenn wir irgend etwas gerammt haben, dann kann das den Druckkörper zerknacken wie nichts! Durch größere Öffnungen würde das Wasser wie eine Riesenfaust blitzartig durch das ganze Schiff schießen und alles auf seinem Weg zertrümmern - und bei einer nur leichten Verformung des kreisförmigen Querschnittes könnte sich das Boot im Bruchteil einer Sekunde zusammenfalten. Wie eine Milchtüte auf dem Schulhof, auf die ein Schüler springt.

Und ich lebe immer noch. Keines von beiden ist passiert - es wäre ja schon vorbei. Es wäre, in dieser Tiefe, schneller gewesen, als ich es mir überlegt habe. Ich hätte nicht einmal Schmerz gespürt - dazu ist das menschliche Nervensystem zu langsam. Und es ist auch zu langsam, dabei diesen Tatbestand festzustellen.

Nicht einmal das Licht hat geflackert - nicht einen Augenblick. Der Reaktor ist am anderen Ende des Schiffes, den stört das Ganze nicht. Noch nicht.

Jedenfalls weiß ich jetzt, was der Unterschied zwischen 'Notmanöver' und Sicherheitsmanöver' ist. Und der Lärm aus der Kantine hält an.

Die Neigung über den Bug nimmt wieder ab. Über die Wände des Druckkörpers dringt ein Knurren und Schleifen und Kreischen herein, die unter anderen Umständen Grund genug für Panik wären - im Moment werden diese Geräusche aber durch den Lärm von vorne übertönt.

Das Boot kommt bei einer Neigung über den Bug von 30 Grad zur Ruhe, nimmt aber vorher noch eine Schlagseite von ebenfalls 30 Grad nach Steuerbord ein - träge, aber entschlossen. Damit ist, von nun an, die Fortbewegung überall an Bord sehr mühsam.

Ich schnalle mich auf einem Sitz vor einer der Konsolen fest. Der 'Buoyancy Driver' - damit muß es etwas zu tun haben! - Es muß einfach. Ich muß es herausfinden. Wenn nur der Lärm nicht wäre.

Die Computer funktionieren noch, als ob nichts wäre. Dafür überschlagen sich auf dem SISC die Meldungen, kaum, daß man noch etwas von den Außenansichten sehen kann.

Amerlingen turnt von zentralen Niedergang her durch das Labor zu mir herunter. Er bringt seinen Kopf neben den meinen:

"Was tun sie?"

"Da war eine Meldung wegen - wegen" ich muß lauter schreien: "wegen ersetztem Buoyancy Driver. Hat das - was damit - zu tun?"

"Wissen - wir - nicht!" schreit er zurück, "Ein Ventil - zu den - Regelzellen - ist offen - läßt sich nicht - schließen - 50 Liter - pro Sekunde!"

"Von - Hand?" rufe ich zurück.

"Werden - sehen. Sie - weitermachen!" Er hangelt sich in Richtung Kantine hinunter.

50 Liter pro Sekunde. Die betreffende Regelzelle faßt höchstens einige Tonnen. Das Wasser muß schon längst in die Bugräume hineinfließen. In jeder Minute drei Kubikmeter. Das innere Volumen des Druckkörpers - minus Wandvolumen - ist 1365 Kubikmeter. Davon gehen noch die Volumina aller Einbauten ab. Bei drei Kubikmetern pro Minute ist dieses Volumen in sieben Stunden aufgefüllt. Weniger wahrscheinlich. Spätestens dann sind wir tot.

Aber vorher wird es schon ungemütlich. Wenn die Hälfte der uns verbliebenen Zeit verstrichen ist, wird der Druck der Innenluft auf zwei Bar angestiegen sein. Nach wiederrum der Hälfte vom Rest sind es vier Bar und so weiter. Dazu kommt, daß das eindringende Seewasser immer mehr Aggregate lahmlegen wird. Es wird Kurzschlüsse geben, vielleicht werden Batterien explodieren, Rechner werden ausfallen, und dann stirbt irgendwann der Reaktor. Die Notbeleuchtung wird vielleicht lange genug halten, bis wir alle tot sind.

Ich verdränge die Gedanken an die medizinischen Aspekte unseres Todes - Sauerstoffmangel wird es ja nicht sein. Die Luft reicht für diese Zeit für uns alle. Ertrinken wird es auch nicht sein, weil wir uns vor dem steigenden Wasser noch eine ganze Zeitlang zurückziehen können. Also wird es der Druck sein. Wie stirbt man durch Hochdruck?

Ich sehe die Zeitanzeige an: Kurz vor 18 Uhr war der Wassereinbruch. Das heißt, Mitternacht werden die meisten von uns nicht mehr erleben. Wieviel Zeit habe ich jetzt noch? In ein oder zwei Stunden wird das Wasser hier ankommen, in der Zentrale kann man noch bis nach neun Uhr an den Computern sitzen - wenn diese dann noch funktionieren sollten. Danach Terminals im Meßgeräteraum und im Labor über der Zentrale und die Terminals in den Maschinenräumen. Noch weiter brauche ich nicht zu planen.

Ob jemand dran gedacht hat, die Lenzpumpen anzuwerfen? Das gibt höchstens einen kleinen Aufschub. 50 Liter pro Sekunde gegen 685 Bar - da wären 4 Megawatt nötig. Der Reaktor gibt das grad noch her. Aber die Pumpen sind nicht so leistungsfähig.

Carola und Edwin sind jetzt wahrscheinlich an den Bildschirmen in der Zentrale tätig. Sollte ich da auch hin? Ist wahrscheinlich weniger Krach. Aber jetzt sehe ich mir erst einmal die Server-Listen an. Ich muß es finden!

Der Lärm aus der Kantine ändert seinen Ton. In den Bugräumen steigt das Wasser - vielleicht ist die betroffene Regelzelle schon überflutet. Ich höre Flüche. Was kann man da jetzt noch machen? Die Regelzellen stehen über Hochdruckpumpen und Hochdruckventile mit der Außenwelt in Verbindung. Die bedient der Server für die Auftriebsregelung - unter anderen Dingen. Die muß man aber auch direkt bedienen können.

Ich lasse die Schiffsbaupläne auf dem Bildschirm rotieren. Die Regelzellen in den Bugräumen sind auf den Plänen leicht zu finden, ebenso ihre Pumpaggregate. Ventilbezeichnungen - da ist es. Es muß ein Ventil sein - die Pumpen würden niemals soviel Wasser durchlassen. Geht gar nicht.

Nun die Hardwaretreiber - unterste logische Ebene - noch unter dem eigentlichen Server. Ich habe das Gefühl, daß ich an den Server nicht rankommen werde - wir werden wieder das Problem mit der fehlenden super-super-user Berechtigung haben. Aber wenn das hier wirklich ein Sabotageakt ist, dann ist auch genauso sicher, daß der Saboteur auch seine fachlichen Grenzen hat. Er hat die super-super-user Berechtigung. Aber die brauche ich vielleicht gar nicht. An die Hoffnung klammere ich mich. An die, und daran, daß es Sabotage ist und nicht etwa ein gesprengter Flansch oder so etwas - dann könnte man über den Computer überhaupt nichts machen.

Ich finde die Treiber, auch die Scripte, mit denen sie ins Betriebssystem eingebunden werden, und kurz darauf finde ich etwas noch viel wertvolleres: Den Source-Code der Treiber! Nichts davon ist unter den Fittichen der 'ROOT'-Berechtigung - 'root' reicht aus!

Aber sie sind in C geschrieben - nicht in PASCAL und nicht in Ada. Carola ist in C besser. Ich brauche ihre Hilfe - ich muß zu ihr hin. Als ich aufstehe, sehe ich bereits die gurgelnde Wasserfläche in der Kantine. Meine Trommelfelle melden mir den Druckanstieg - ich muß schlucken. Jetzt schon? Das heftigere Atmen - das kann doch noch kein Sauerstoffmangel sein - jetzt noch nicht. Natürlich, denke ich: Kohlendioxid! Davon ist sehr viel in dem Wasser in diesen Höhlen gelöst - das kocht jetzt aus dem eingedrungenen Wasser aus, wegen des starken Druckunterschiedes zwischen Innen und Außen. Das heißt aber auch, daß der Druck rascher steigt als es dem verbleibenden wasserfreien Volumen entspricht.

In der Zentrale ist es wirklich ruhiger - aber die Angst hängt im Raum. Und der Raum hängt genauso schief, wie alles an Bord.

Nicht nur Carola und Edwin, sondern auch Amerlingen und Fastenbeek beschäftigen sich mit den Rechnern. Sie wollen das Problem aber über den geheimnisvollen ersetzten 'Bouyancy device driver' angehen. Außerdem sind da noch viele weitere Mitglieder der Besatzung versammelt, die wahrscheinlich vor kurzem alle aus der Kantine vertrieben wurden. Teilweise kommen sie wohl auch nicht mehr in die eigenen Kabinen rein.

"Das könnt ihr vergessen!" sage ich zu Carola und Edwin, "Ihr werdet den Original-Server nicht finden!"

"Wir haben ihn gefunden," sagt Edwin, "Aber leider ist er aufs Byte genau mit dem ersetzten identisch!"

"Das ist eine Falle - ihr kommt so nicht weiter, ich sag's euch!"

"Wir haben aber den Source-Code für den Server!" zischt Carola.

"Na, wunderbar." sage ich, "Wieviele hunderttausend Zeilen sind das? - Wollt ihr den heute abend reparieren?"

"Haben wir eine andere Möglichkeit?"

Ich erläutere meine Idee mit den hardwarenahen Treibern. "Für die Wiederherstellung des Servers haben wir später genug Zeit. Jetzt müssen wir erst einmal das Ventil zu kriegen!"

"Wissen Sie, was Sie vorhaben?" fragt Wellington dazwischen. Er findet die Zeit dazu, obwohl er die Tätigkeiten, das Ventil manuell zuzumachen, koordinieren muß.

"Nein, überhaupt nicht." Und zu Carola: "Ich weiß das Directory mit den Sourcen für die Hardwaretreiber. Du mußt nur den richtigen ändern und re-compilieren! - Das ist alles."

Ich führe ihr die Liste vor. Sie sieht sich einige davon an: "Algorithmisch nicht allzu kompliziert. Eigentlich gar nicht!" sagt sie.

"Na, siehst du. Und sie werden noch einfacher, wenn es nur darum geht, dieses Ventil zuzumachen."

"Gut. - Und welcher ist es?"

"Das weiß ich nicht."

"Zum Raten sind es zu viele."

"Zum intelligent raten nicht. Und es schadet nichts, wenn wir ein paar falsche Ventile zumachen. Dann lernen wir es wenigstens."

"Und wenn wir ein falsches Ventile erwischen und es auf- statt zumachen?" fragt Carola.

"Du hast doch dein Leben schon gehabt, oder? - Nun jammer nicht." Sie sieht mich an, als würde sie mir ganz gerne die gesamte PRO-UNIX-Dokumentation in den Rachen stopfen. Noch ein Vorteil des papierlosen Büros, denke ich - da geht sowas nicht.

Wir fangen an, weil uns nichts anderes übrigbleibt. Software zu modifizieren, die andere geschrieben haben, das können die beiden ja. Haben wir nicht seinerzeit einen Ada-Compiler eines Fremdherstellers an die Maschinen unseres Arbeitgebers angepaßt? Wenn überhaupt jemand durch dieses Software-Wirrwarr durchfinden kann, dann sind es diese beiden. Und ich muß mich um die Plausibilität kümmern, damit wir unsere Zeit nicht an einem Treiber für einen der Kühlschränke an Bord verschwenden, oder gar versuchen, ein anderes Ventil nach draußen auf zu machen - so weit hergeholt sind Carola's Befürchtungen nämlich nicht.

Es dauert, bis wir etwas finden, was aussieht wie ein Treiberprogramm für Ventile. Dann geht es los - 'Experimental-Informatik' wird sowas manchmal abwertend genannt. Aber was können wir denn sonst noch tun?

Zwischendurch werfe ich einen Blick in unseren Kabinengang. Die Wasseroberfläche gurgelt bereits an den Türen der Kabinen am Gangende - die beiden, die noch nicht belegt sind. Auf der Seite der Nautischen wird es schlimmer aussehen, weil die wegen der Schlagseite tiefer liegt. Das vordere Unterdeck ist inzwischen weitgehend überschwemmt - siedendheiß fällt mir die Tieftemperaturtruhe mit der Flüssigluft ein. Kann da etwas passieren? Ich entscheide mich, daß das nicht möglich ist, weil: Wenn diese Truhe von dem steigenden Wasser umgeben ist, dann ist auch ein direkter Kontakt der Flüssigkuft mit dem Druckkörper nicht möglich. Aber der beunruhigende Gedanke bleibt.

Oben, in unserem Labor, werden sie jetzt arbeiten, um direkt an das Ventil heranzukommen - oder auch nicht mehr - der Weg unter Wasser ist vielleicht schon zu weit, und ich glaube nicht, daß das Ventil leicht zugänglich ist - da wird man irgendwelche Dinge abbauen müssen.

Hoffentlich beschädigen sie nicht die Aggregate da vorne so, daß der Computer sie nicht mehr bedienen kann!

Zurück in der Zentrale. Carola jammert: "Ich verstehe es nicht - es sind so viele! Und alle haben so nichtssagende Namen!"

Ich hole auf einer Konsole ein Bild der technischen Zeichnungen herein: "Die Ventile haben Namen. Darüber mußt du rankommen können! Da müssen doch irgendwelche mnemotechnischen Bezeichnungen verwendet worden sein!"

Edwin faßt sich an die Ohren. Ich erinnere mich: er hat da doch ein medizinisches Problem mit seinen Ohren. Er muß Schmerzen haben. Aber er sagt nicht viel.

"Das da probiere ich," sagt Carola, "das könnte es sein! - Himmel, ich kriege keine Luft mehr!"

Sie compiliert einen der Treiber, dann kopiert sie das Resultat auf den aktuellen Treiber. "Und wie weiter?" fragt sie.

"Da gibt es ein Script, um diese Treiber zu starten!"

"Großartig. Und wer stoppt die schon laufenden Treiber?"

"Herr Gott, ich weiß es doch nicht!" sage ich.

"Schrei mich nicht an!"

"Ich schrei doch nicht!"

"Was soll ich denn jetzt machen?"

"Laß es laufen. Das Script heißt - " ich greife ihr in die Tasten, um es ihr zu zeigen: "Da! Das ist es."

"Soll ich?" fragt sie.

"Ja."

Sie setzt das Kommando ab.

Augenblicklich erscheint auf dem SISC eine neue Alarmbox:


        FP-REACTOR FAILURE - ADVISE RESTART

"Was?" schreit Wellington, "Was haben Sie da gemacht?"

"Das war ..." sage ich, und Carola vollendet den Satz: "der falsche Treiber."

Wir sehen uns an. Wir alle wissen: Wenn wir tatsächlich den Reaktor abgeschossen haben, dann wird es jetzt schwierig. Dann wird nämlich auch gleich der Computer ausfallen.

Und dann geht nichts mehr.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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