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2. Der tote Indianer

Die Aufregung auf diesem Lauf war noch nicht vorbei. Als ich von Kreuzstraße aus nach Norden lief, auf Faistenhaar zu, und als ich die Einmündung der Peißer Waldstraße, an der das Forsthaus steht, erreichte, kam mir diese Forststraße etwas zu dunkel vor - der Mond stand noch nicht weit genug, um den Weg zwischen den Bäumen durchgehend zu beleuchten. Ich fühlte mich unbehaglich. Und so änderte ich aus einem Impuls heraus wieder meine Pläne und entschloß mich, ganz genau denselben Weg zurückzulaufen. Das hat dann ja auch den Vorteil, daß man nachher auf der Karte schneller nachmessen kann, welche Strecke man nun gelaufen ist: Auf einer topographischen Karte mit 1 : 50000 ist 1 Zentimeter gerade 500 Meter, hin und zurück also genau 1 Kilometer. Ganz einfach.

Als ich, von Kreuzstraße kommend, einige hundert Meter vor Grub die Hauptstraße wieder verließ, um über die Felder nach Norden auf den Waldrand zu zu laufen, meiner alten und gut erkennbaren Spur folgend, hatte ich ein ungutes Gefühl: Für einige Sekunden würde ich mich auch auf dem Feld gerade in der geometrischen Verlängerung des Waldweges befinden. Jemand mit einem Nachtglas könnte mich sehen und mutmaßen, daß ich wieder in die Nähe dieses Waldweges kommen würde.

Zwar hatte ich diesen Gedanken auch schon, als ich noch vor ein paar Dutzend Minuten genau hier nach Süden lief, aber da war ich ja dabei, in Kürze die Straße zwischen Grub und Kreuzstraße zu erreichen, und man würde mich von weitem wohl kaum verfolgen können. Selbst, wenn ich die Aufmerksamkeit von jemandem erregt hätte.

Jetzt war es andersrum. Ich beobachtete meine Umgebung auch sehr genau, um irgend etwas Ungewöhnliches zu sehen. Aber nichts passierte, und so blieb nur das Prickeln in der Magengrube.

Aus noch großer Entfernung beobachtete ich den beleuchteten S-Bahn-Zug, der aus Kreuzstraße kam und an der Einmündung des Waldweges vorbeifuhr. Es muß der letzte oder der vorletzte dieses Tages gewesen sein - ich weiß nicht mehr. Jedenfalls blieb ich stehen, um zu sehen, ob der kurze Schein aus den hellen Fenstern dort irgendetwas sichtbar machte, bevor oder nachdem der S-Bahn-Zug den Blick auf die Einmündung unterbrach. Nichts. Natürlich, auf diese Entfernung. Außerdem, in den wenigen Sekunden, wo das Licht aus den Fenstern des S-Bahn-Zuges den Waldweg optimal ausleuchteten, versperrte genau dieser S-Bahn-Zug den direkten Blick auf diesen Waldweg. Ich lief weiter.

Mit keinem Blick würdige ich den alleinstehenden Baum zwischen mir und den S-Bahn-Gleisen. Es ist im Mondlicht nicht gleich zu erkennen, aber unter demselben steht eine Darstellung des Gekreuzigten. Das kann ich nicht ansehen. Wegen Charmion.

Am Waldrand entlang erreichte ich wieder die Gleise der S-Bahn. Da war schon eine gewisse Versuchung, mich noch einmal durch den Wald anzuschleichen, um nachzusehen, ob der PKW noch da war. Ich tat es aber nicht. Nur einen Moment blieb ich stehen, um zu lauschen.

Die Musik war weg.

Lautlos, oder so gut wie, lief ich zwischen den Schienen nach Norden. Je weiter ich mich von dem Waldweg entfernte, desto ruhiger wurde ich. Auch gab es ja eigentlich noch einen anderen Grund, sich sicher zu fühlen: Wenn sich hier irgend jemand außer mir rumtriebe, dann müßte derjenige ja auch Spuren hinterlassen, genau wie ich. Aber weder auf meinem Lauf über die Felder bei Grub noch jetzt, an den Flanken des Bahndammes, sah ich andere Spuren außer den meinen.

Eigentlich schade. Ich hätte nichts gegen eine Läuferin. Man läuft schneller, wenn man hinter einer Frau herläuft. Meinen bis jetzt schnellsten Marathon habe ich nur geschafft, weil ich mich bei Kilometer 16 an eine Läuferin gehängt und sie als Schrittmacherin verwendet habe. Bei Kilometer 33 ist sie mir dann davongelaufen, aber zu meinem persönlichen Rekord hat es immerhin gereicht. Sie hieß, glaube ich, Barbara Herbst, und ich habe später erfahren, daß sie mindestens doppelt so viele Trainingskilometer zurückzulegen pflegte wie ich selbst, was mich mit meiner Niederlage wieder etwas versöhnt hat. - Das ist jetzt auch schon 11 oder 12 Jahre her. Wie die Zeit vergeht. Damals lebte Charmion noch, und ich wußte noch nichts von ihr ...

Kurz vor dem Bahnübergang von Großhelfendorf, noch im Wald, bog ich nach Osten ab, um über einige Felder und am eingezäunten Wasserhäuschen mit dem Trafomast vorbei unsere Wohnung am südlichen Rand von Großhelfendorf zu erreichen. Nach knapp 800 Metern geht es dann in einem kurzen Hohlweg einen kleinen Hang hinauf, bei dem ich nach längeren, anstrengenden Läufen immer versucht bin, aus dem Laufschritt herauszufallen. Dieser Lauf war aber etwas kürzer als ich es eigentlich vorgehabt hatte, und so gibt es keine Ausrede: Die paar Meter bergauf werden gelaufen.

Ich hätte es auch wohl getan, wenn nicht, kurz bevor ich oben ankam, ein trockenes Husten an mein Ohr gedrungen wäre.

Es kam aus großer Nähe, keine zweihundert Meter entfernt! Wer treibt sich hier rum, zu dieser Zeit?

Der Hohlweg, den ich hinauflaufe, wird innerhalb weniger Meter das Niveau der Felder rundherum erreichen. Von da an habe ich nur noch 300 Meter bis nach Hause. Und es ist ein günstiger Punkt, um zu beobachten - ich falle augenblicklich aus dem Laufschritt heraus und bewege mich lautlos weiter. So schiebt sich mein Kopf langsam über das Niveau des Wegerandes hinaus. Ich kann rundherum beobachten, ohne gesehen zu werden. Wenn ich mich halbwegs geschickt anstelle.

Jetzt ist es still, aber die wahrscheinliche Quelle dieses Geräusches ist leicht auszumachen: Zur Rechten sitzt eine Gestalt auf dem Feld, knapp 200 Meter entfernt.

Eine merkwürdige Gestalt. Bei der Entfernung und im Mondlicht erkennt man nicht viel. Es scheint, als ob die Gestalt auf den Knien hockt, leicht nach Osten vorneüber geneigt, und völlig reglos. - Wenn ich eben nichts gehört hätte, und wenn ich diese Gegend zum ersten Mal sähe, dann würde ich diese Gestalt für einen Gegenstand halten, für irgendein landwirtschaftliches Gerät, das ich zwar nicht kenne, aber was sollte auf einem Feld in einer kalten Mondnacht auch anderes stehen?

Naja, es ist natürlich möglich, daß jemand einen ungewöhnlichen Einfall hat. Mir fällt ein, daß wir kurz vor Ausbruch des ersten Golfkrieges vor sieben Jahren vielleicht 40 Meter von der Stelle, an der diese Gestalt sitzt, ein Iglu gebaut haben, das den ganzen Golfkrieg lang Bestand hatte. Erst nach der irakischen Kapitulation ist es zusammengeschmolzen. Aber das, was dort sitzt, hat eine entfernt menschenähnliche Gestalt. Sie hat ja eben gehustet.

Sie erinnert mich an einen alten Indianer, der sich zum Sterben mit Blick nach Osten nierdergelassen hat. Alberne Assoziation, natürlich, aber so etwas bleibt hängen, wenn es das erste ist, was einem einfällt. Natürlich ist es kein Indianer. Und kein Iglu. Und auch niemand, der gerade ein Iglu baut. Vielleicht Irene? Nein. Sie kommt selten auf die Idee, alleine spazieren zu gehen. Und dann sitzt sie nicht auf einem Schneefeld herum und starrt nach Osten.

Ich denke an andere Möglichkeiten. Jugendliche aus Großhelfendorf? Da ist mir nie jemand aufgefallen, der die Unannehmlichkeiten eines reglosen Aufenthaltes in kalter Winternacht für eine Art Geländespiel in Kauf genommen hätte. Die jüngsten Töchter unseres Vermieters und unseres Nachbarn sind mit 18 eigentlich auch schon zu alt dazu, und die Gabi und die Lydia waren in den jüngeren Jahren auch nicht gerade kältefest oder sportbegeistert oder hatten gar Ambitionen als Naturbeobachter.

Minutenlang beobachte ich. Ich möchte, daß die Gestalt sich noch einmal bewegt, damit ich weiß, daß ich tatsächlich keine akustische Halluzination hatte. Und sie tut mir den Gefallen: Sie bewegt sich.

Die Bewegung ist aber deutlich genug interpretierbar: Sie hat einen Feldstecher an die Augen gehoben und sieht nach Osten.

Was kann man von dort sehen, wenn man einen Feldstecher benutzt? Es ist natürlich albern, aber ich habe den Eindruck, daß der- oder diejenige uns zu den Fenstern hineinschaut. Das ist weit hergeholt, schon weil wir alle Vorhänge zugezogen haben. Aber außer unseren Südfenstern gibt es kein einziges Fenster in Großhelfendorf, das man von dort aus, wo diese Gestalt hockt, sehen kann.

Andererseits weiß ich auch, was für ein mächtiges Instrument ein gutes Nachtglas ist. Wenn die Austrittspupille groß genug ist, und die Transmission fast 100 Prozent, dann kann man in dieser mondhellen Nacht mit einiger Übung unglaublich viel sehen. Die Übung braucht man aber, weil man das Glas ruhig halten muß und weil man verhindern muß, daß die vom Auge verdunstende Feuchtigkeit sich auf den Okularen niederschlägt, wo sie viel zu langsam wieder wegsublimiert. Das ist bei dieser Kälte nicht einfach.

Wenn ich jetzt weiterlaufe, dann kann man mich von dort mit einem Nachtglas also bestens sehen, die ganze Zeit, bis ich um unser Haus herumlaufe. Wer mich kennt, würde mich erkennen. Das ist mir unangenehm. Natürlich kann jeder sich die Landschaft zu dieser Zeit so lange ansehen wie er mag, und wenn es dabei so aussieht, als ob ich beobachtet werde, dann ist das eben Zufall. Es gibt nämlich keinen Grund, sich für mich zu interessieren. Wir sind nicht reich, wir sind nicht in bedeutender Stellung, weder Irene noch ich. Kein Grund zur Sorge. Niemand kann etwas von uns wollen.

Einen Moment lang denke ich an den Wagen auf dem Waldweg. Ist da ein Zusammenhang? Dieses ist schließlich die zweite ungewöhnliche Beobachtung auf diesem nächtlichen Waldlauf. Eine gewisse Häufung. Die meisten Waldläufe sind ereignisloser. Was ist denn schon Aufregendes passiert, auf den etwas mehr als 26000 Kilometern, die ich bisher in meinem Leben erlaufen habe? Ein paarmal sind mir Füchse in unmittelbarer Nähe über den Weg gelaufen, deren unnatürlich gleichgültiges Verhalten eine Tollwutinfektion vermuten ließ. Es ist aber in keinem Fall ein Angriff erfolgt. Zwei- oder dreimal hatte ich mich mit der Temperatur so verschätzt, daß ich fast nicht mehr lebendig nach Hause gekommen wäre. Einigemale sind mir auf Nebenstraßen PKWs begegnet, deren Fahrer offenbar nicht mehr fahrtüchtig waren - das waren vielleicht noch die gefährlichsten Vorfälle. Ein paarmal traf ich im Wald unerwartet Menschen, was bei dieser Laufstrecke zu erwarten ist. Dann wurde ich, etwa vor zehn Jahren, kurz vor Weihnachten von einem langsamfahrenden PKW beschattet - ich nehme an, einer der lokalen privaten Waldbesitzer hat einen Weihnachtsbaumdiebstahl vermutet.

Alles Situationen, die mit mehr oder weniger geringer Wahrscheinlichkeit eintreten, die aber eintreten müssen, wenn man ihnen lange genug Gelegenheit dazu gibt. Und jetzt ist eben eine Gestalt auf einem nächtlichen, mondbeschienenen und schneebedeckten Feld dran, eine Gestalt, die aussieht wie ein toter Indianer, dessen nichtsehende Augen auf den nächsten Sonnenaufgang warten, der aber ab und zu einen Feldstecher benutzt. - Es kann nichts zu bedeutet haben.

Ich laufe weiter. Innerhalb von Sekunden bin ich wieder im vollen Mondlicht und auf dem Niveau des Feldes rundherum. Aus den Augenwinkeln und eine deutliche Kopfwendung vermeidend beobachte ich die Gestalt weiter. Sie bleibt reglos. Minuten später bin ich zu Hause.

Als ich Irene erzähle, was ich gesehen habe, zuckt sie die Achseln: Ein Nachtspaziergänger - na und? Was ist daran besonderes?

Vor mehr als zwei Jahren wäre Irene vielleicht beunruhigter gewesen. Aber sie war mit mir in der Welthöhle. Nach dieser Erfahrung kann sie ein einsamer Spaziergänger, der sich vielleicht etwas seltsam verhält, kaum noch aufregen. Wir sind schließlich beide durch ganz andere Abenteuer 'gestählt' worden.

Und sie hat ja recht. Ein seltsamer, nächtlicher Spaziergänger bedeutet keine Bedrohung. Und wenn es eine Bedrohung gäbe, dann wüßten wir auch, wie wir damit fertig werden: Jeder von uns weiß, wo die extra geschliffene Axt liegt, und die Sprühflasche mit der Natronlauge, die eine noch fürchterlichere Waffe darstellt, wenn man weiß, wohin man einem Angreifer das Zeug am zweckmäßigsten spritzt. Und seit unseren Erlebnissen in der Welthöhle weiß ich auch, daß ich diese anwenden würde, um Schaden von Irene oder mir abzuwenden. - Niemand will uns etwas tun, und niemand wird uns etwas tun.

Es dauert nicht lange, bis ich den Vorfall auch vergessen habe.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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