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41. Kapitel



        41.     High Noon

Ich bin die Heldin des Tages. Man hat mich den Rest der Nacht kaum schlafen lassen - schon die zweite Hälfte des Heimweges mußte ich immer erzählen, und eine Meute aufmerksamer Zuhörer folgte mir. Schläft denn niemand mehr in den Morgenstunden? Wenn die Strandung einer Stadt nicht anstrengend genug ist, was dann? Oder weckt das tiefrot flackernde Gewitter über den Wäldern im Südwesten der Halbinsel in den meisten Menschen den Pyromanen? Hat das Grollen am Horizont sie nicht nur geweckt, sondern ihnen den Adrenalinspiegel bis weit über die Ohrspitzen getrieben?

Bei Anbruch des Tages sind alle Stadtbewohner, die Abenteuerlust und Aggression in den Knochen spürten, in das Gebiet geströmt, das immer noch durch Rauchsäulen markiert wurde. Einige haben es schon in der Nacht gewagt. Sie haben sogar 'Gefangene' gemacht.

Es war nicht alles herauszubekommen, was wir gerne wissen wollten. Was wir erfahren haben, ist interessant genug, wenn auch noch nicht restlos zusammenhängend:

Es scheint so zu sein, daß vor geraumer Zeit Truppenteile der Weltbevölkerungskonferenz bei einem Einsatz 'abhanden' gekommen sind. Was für ein Einsatz das war, wissen wir nicht. Aber wenn die Presse in den Außenwelten erst einmal Blut geleckt hat, dann wird sie es herausfinden. Es gibt ja sonst so wenig Sensationen.

Wie es passieren konnte, daß Truppenteile 'abhanden' kommen, ist genauso unklar. Es muß mit der Art des Auftrags dieser Truppen zusammenhängen. Jedenfalls haben diese Menschen sich unter der Führung eines sich selbstherrlich gebärdenden Offiziers eine Existenz in den unwegsamsten Teilen der Eiderstädter Halbinsel geschaffen. Diese Räume und Einrichtungen waren so gut getarnt, daß sie von den Überwachungssatelliten der WBK nicht erkannt wurden, und wenn das Feuer nicht gewesen wäre, dann hätte es gut sein können, daß in vielen Monaten niemand diese gut getarnten Stellungen entdeckt hätte. Mit einer Stadtkommandantin, die nachts auf den Knien durch den Wald rutscht, konnten sie ja nicht rechnen.

Sie hatten noch viele Waffen gehabt, in den verschiedensten Stadien der Verwendbarkeit. Wir erfahren, daß die Cruise Missiles, die sie der sich nähernden Stadt entgegenschickten - übrigens einige mehr als die, die wir entdeckten - fast alle mit Nervengiften beladen waren. Allerdings hatten diese Leute nicht die Expertise, die Raketen sauber zu programmieren. Das hat vermutlich der ganzen Stadtbevölkerung das Leben gerettet. Allein die eine, die die Stadt überflogen hat, weil sie sie nicht als Ziel erkannt hat, hätte ausgereicht.

Was dieser größenwahnsinnige Oberst mit seinem feudalen Herrschaftsbereich erreichen wollte, oder ob diese seine lokale absolute Machtfülle schon Selbstzweck war, das ist schwer herauszufinden. Es ist auch nicht bekannt, ob er flüchtig ist oder ob er bei dem Feuerwerk umgekommen ist. Die Weltbevölkerungskonferenz soll sich darum kümmern. Und das wird sie tun, schon, weil sie selbst einige unangenehme Fragen beantworten muß. Ich habe jedenfalls Miriam Ugawe mit ihrem Duocopter in die Nähe des alten Husums geschickt, an eine Stelle, an der sie jeden sehen kann, der versucht, die Eiderstädter Halbinsel zu verlassen. Gegebenenfalls hätte sie da noch genügend Eisenschrott übrig, um ihn aus dem Duocopter abzuwerfen. Andere Freiwillige sind zu diesem Platz unterwegs. Freiwillige dazu gab es genug - schließlich ist es DAS Abenteuer auf der alten, echten Erde! High Noon auf dem Boden eines richtigen Planeten!

Halbwegs konnten wir auch etwas über die Aktionen erfahren, die gegen uns unternommen wurden. Schon in der Anlage liegt wenig Logik. Wieso macht man, wenn man schon unentdeckt auf der Erde weiterleben möchte, mit dem Abschießen von Flugzeugen und dem Abfeuern von Cruise Missiles auf sich aufmerksam? War die Intention, die dahintersteckte, die, den schon in den Medien im ganzen Sonnensystem bekanntgemachten Entschluß, am Strand der Eiderstädter Halbinsel zu stranden, zurückzunehmen? Das paßt doch nicht zusammen - nach diesen Vorfällen war es nur noch eine Frage der Zeit, wann die WBK Truppen landen würde. Vielleicht waren die Gedanken dieses Obersts so wirklichkeitsfremd, daß er das anders sah, wenn diese Entscheidung von ihm ausging. Was wahrscheinlich der Fall war.

Ich hätte an seiner Stelle anders gehandelt. Bei der unzugänglichen Lage seiner Unterkünfte wäre es sinnvoll gewesen, sich absolut still zu verhalten und in der Zeit vor der Strandung - einige Tage wäre ja Zeit gewesen - alles aus dem Wald zu entfernen, was zu auffällig ausgesehen oder was vielleicht die Anwesenheit von Menschen angedeutet hätte. Geeignete unterirdische Stellungen gibt es da nämlich genug.

Jedenfalls ist es ein gewisser Trost, daß auch andere Personen in einer Führungsposition völlig blödsinnige und nicht nachvollziehbare Entscheidungen treffen. Oder sehen die meisten unserer Entscheidungen nach außen so blödsinnig aus? Ich weiß es nicht. Noch weiß ich es nicht.

Was mit den drei Besatzungen der Flugzeuge passiert ist, die plötzlich verschwunden sind, haben wir auch noch nicht in Erfahrung bringen können. Die Gefangenen scheinen nichts zu wissen, und wir haben unsere Leute nicht wiedergefunden, weder tot noch lebendig, und das, obwohl die Bewohner der Stadt zu Tausenden in die Waldgebiete im Südwesten der Halbinsel eingefallen sind.

Dafür werden in den ausgebrannten Unterständen die teilweise verkohlten Leichen junger Frauen gefunden, die irgendwie nicht den Eindruck machen, als wären sie im militärischen Dienst der WBK gewesen. Und vieles aus der zerstörten Einrichtung dieser Unterstände können wir überhaupt nicht identifizieren.

Irgendwie habe ich den Eindruck, daß diese Affäre mit den abhanden gekommenen Truppenteilen der WBK noch lange nicht aufgeklärt ist. Ich habe das Gefühl, daß da noch ein sehr scheußliches Geheimnis ist. Aber das ist jetzt keine Gefahr mehr für uns, und wir müssen uns um andere Dinge kümmern.

Eigentlich sollte ich die provisorischen Lazarette besuchen. Nicht, um sie zu inspizieren - unsere Krankenpfleger und Ärzte sind da kompetent genug. Aber um den Leuten Mut und Hoffnung zu geben und mit den Kranken ein Wort zu wechseln. Mit denen, die schon vor der Strandung krank waren, und mit denen, die während der Strandung zu Schaden gekommen sind. In dieser ungewöhnlichen Situation ist es unangenehm, hilflos zu sein, gerade hier, auf dem Boden dieses uns inzwischen schon wieder so fremden und bedrohlichen Planeten Erde.

Aber in einem dieser Lazarette liegt die Straub. Die Antipathie gegen sie ist nach wie vor ungebrochen. Wahrscheinlich gilt das gegenseitig. Wenn menschliche Größe darin besteht, daß man sich über solche Dinge hinwegsetzen kann, dann habe ich keine menschliche Größe. Ist mir recht. Lieber keine menschliche Größe als der Straub noch einmal über den Weg zu laufen.

Anderen würde ich ganz gerne über den Weg laufen. Cammaroto zum Beispiel. Wie war es beim Kampf um Sektor C7? Ich habe davon nur Nachrichten mitbekommen. Es muß schlimm gewesen sein, schließlich sind dabei ja nicht wenige Menschen umgekommen, nicht nur Cammaroto, bis man endlich eingesehen hat, daß die fortschreitende Zerstörung der Stadt nicht mehr aufzuhalten und Weglaufen die letzte, verbleibende Handlungsoption ist.

Und Pamela Ugawe? Dagobert Limbert? Micha Mayoma? Wieviele noch? Gefallen im Kampf um diese Stadt. Wir stehen alle in ihrer Schuld. Ich kann es ihnen nicht mehr sagen. Aber ich werde ihre Verwandten aufsuchen.

Heute sind auch die ersten Hilfsgüter, die von den Außenwelten geschickt wurden, gelandet worden. Sie haben die Uraltmethode verwendet: Kapseln mit einem Hitzeschutzschild, das beim Eintritt in die Atmosphäre teilweise abschmilzt, und der Rest des Weges wird dann an einem Fallschirm hängend zurückgelegt. Genauso, auf diese abenteuerliche Weise, hat man es vor über 150 Jahren in den Anfängen der Raumfahrt gemacht - sogar die ersten Mondfahrer sind auf diese Weise zurückgekommen, glaube ich. Mut hatten sie schon, unsere fernen Vorfahren - wohl das genetische Erbe einer evolutionären Entwicklung auf diesem Planeten. Vielleicht werden wir es immer in uns haben.

Was unter anderem mit dieser Methode gelandet wurde ist ein Fernsehteam mit Ausrüstung. Es geht auch nicht anders, denn für richtige Raumschiffe ist die Sandbank immer noch nicht genügend freigemacht worden. Allerdings liegen schon drängende Anfragen vor, wann wir damit endlich fertig seien. Eine schwierige Aufgabe - da sind zwar mehr als eine Million Menschen, aber die ohne genügende Kommunikationsmittel zum Arbeiten zu bringen, ist schwierig, insbesondere auch deshalb, weil sich die meisten immer noch als Gäste der Stadt und nicht als Mitarbeiter im Unternehmen 'Überleben' sehen. Eine übertriebene Arbeitslust ist einfach nicht verbreitet, jetzt, wo die dringendsten Versorgungsprobleme eigentlich gelöst sind und wo jeder, der noch am Leben ist, nicht einer potentiellen Lebensgefahr entgegensieht, so, wie es noch vor der Strandung war.

Das Fernsehteam bekommt mich am Nachmittag vor die Kamera. Ich bin so müde, daß ich kaum weiß, was ich sage. Aber es erscheint mir doch paradox: All die Mühen, die Stadt sauber zu stranden, alles, was wir vorher, während oder danach getan haben, um den Verlust von allzuvielen Menschenleben zu vermeiden, das kommt nicht zur Sprache. Aber nachts im Wald ein Feuerwerk zu veranstalten, und auch das nur, weil die Vorbesitzerin dieser Pelzjacke eine Raucherin ist, darauf reiten sie rum - als ob sonst nichts vorgefallen wäre. Wo ist denn da die Leistung? Hätte ich kein Feuerzeug gehabt, oder hätten diese Leute nicht diesen Treibstofftank im Wald so dämlich und leichtsinnig zwischen den Holzstößen aufgestellt, oder wäre ich im Dunkeln an dieser Stelle vorbeimarschiert, ohne irgendetwas zu bemerken, - ein paar Meter seitlicher Versetzung hätten ja gereicht - dann hätte alles einen anderen Verlauf genommen.

Immerhin haben die TV-Leute Zelte mitgebracht. Für sich selbst, versteht sich. Als ich ihnen noch mehr Informationen verspreche für den Fall, daß ich Gelegenheit habe, mich auszuschlafen, verstehen sie: Ich bekomme ein Zelt. Ein eigenes. Das ist nicht sehr sozial den anderen Bewohnern der Stadt gegenüber gedacht, aber mir wurde inzwischen versichert, daß noch weiteres Material gelandet werden soll, bis der letzte Stadtbewohner die Erde wieder verlassen haben wird. Zelte wird es bald in großen Mengen geben, und irgendjemand muß die ersten Zelte, die da sind, ja benutzen.

Ich bin aber noch nicht zufrieden. Das Zelt ist nicht geheizt. Läßt sich bei dem Wind auch nicht heizen. Deshalb lasse ich Paul noch vor dem Dunkelwerden von der Stadt herüberholen.

Nicht, daß ich meine Position als Stadtkommandantin mißbrauche. Es ist ja auch überhaupt nicht klar, ob ich diese Position überhaupt noch habe. Bin wirklich neugierig auf meinen nächsten Gehaltsstreifen.

Aber Paul hat den Vorschlag ja selber angedeutet. Ich habe nichts gegen eine Wärmflasche. Und so gesehen hat er ja auch was davon. Deshalb schließt er sich meinem Vorschlag der thermischen Kooperation während des Nachtschlafes an.

Es ist nicht die übliche Vorstellung, die man von Romantik hat. Eines Tages aber wird es in einem richtigen Bett sein, und weder Schmutz noch Hunger wird uns stören.

Aber so groß und erfolgreich wie heute wird jener Tag nicht mehr sein. Und wir werden uns auch nicht mehr auf der Erde aufhalten, der guten, alten, unersetzlichen Erde, diesem großartigen Planeten, der einmal unsere Heimat war.



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