5. Arroganz
Der Zentrallift summt. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ihre Majestät, die Straub ist da. Schichtleiterin von Beruf und Charakter, zeitweise während der Schicht abwesend. Letzteres ist ihre einzige erfreuliche Eigenschaft.
Zunächst wirft sie uns keinen Blick zu sondern stolziert zu dem Tisch, wo das Logbuch liegt. Da wird sie wohl nichts Interessantes finden. Außer dem Routineeintrag von heute morgen, als ich begann, die Auftriebszellen zu fluten, habe ich nicht Zeit für eine weitere Zeile gefunden.
Tatsächlich überfliegt sie die letzten Eintragungen. Dann kommt sie auf uns zu. Miesner und sie kennen sich wahrscheinlich nicht, das merkt man daran, daß sie sich gegenseitig kaum beachten. Sie durchbohrt Rodrigo mit ihren Blicken:
"Was machen Sie hier? Sie haben doch keinen Dienst?"
"Wir haben ein Problem ..." versuche ich einzuwerfen, aber:
"Sie habe ich nicht gefragt!" Und zu Rodrigo: "Was machen Sie hier? Der Aufenthalt im Turm ist nur dienstlich gestattet."
"Sind Sie denn dienstlich hier?" erkundigt Miesner sich höflich. Mir bleibt die Spucke weg. Er kann sie tatsächlich noch nicht kennen. Die Straub sieht ihn an. Fehlen ihr jetzt die Worte? Das kommt doch eigentlich kaum vor. Die Straub hat nie einen Deadlock.
"Allerdings. Ich bin die Schichtleiterin. Und was sind Sie?"
Versprecher? 'Was sind Sie', statt 'Wer sind Sie' zu fragen? Die Straub bringt es fertig und hat genau das gemeint.
"Dr. Robert Miesner, von GENERAL CRAFTS." Die Firma GENERAL CRAFTS wird sie wohl kennen. Daraus könnte man auch den Zweck von Miesners Hiersein erraten. GENERAL CRAFTS war einer der Hauptkontraktoren beim Bau der Stadt. Die haben noch mehr als bloß die Software hergestellt. Da die Stadt über eine Betreibergesellschaft von der WBK verwaltet wird, ist das Verhältnis der Stadtverwaltung zu GENERAL CRAFTS etwa das eines Kunden zu einer Firma. Das heißt, die Hierarchien beider Organisationen haben nichts miteinander zu tun. Das wiederum heißt, die Straub ist unsicher, wie sie mit Miesner umgehen kann. Wie schön.
Die Straub mustert ihn von oben bis unten. Akademische Titel sind ihr auch ein Greul. Sie muß fürchterliche Komplexe haben. Wir wissen natürlich, daß sie seinerzeit zwei Studiengänge in den Sand gesetzt hat.
"Und?"
"Ich habe hier zu tun. Sie sind doch informiert worden." Er wendet sich wieder seinen Papieren zu. Abneigung auf beiden Seiten. Wenn Antipathie brennbar wäre, dann wären wir jetzt in Lebensgefahr. Das erinnert mich daran, daß wir das in der Tat ja auch sind.
Die Straub kann natürlich nicht zugeben, daß sie schon wieder das wenige vergessen hat, was ich ihr am Visiophon gesagt habe. Aber wissen tät sie schon ganz gerne, was eigentlich los ist.
Miesner rettet uns, ohne es zu beabsichtigen, über die peinliche Situation hinweg. Er denkt laut nach:
"Da ist eine Möglichkeit. Es gibt Optimierungen. Wenn ein numerisches Modell der Stadt neu generiert werden muß, dann ist es entweder sehr unterschiedlich oder nur wenig unterschiedlich von den Modellen, die schon da sind. Wenn es nur wenig unterschiedlich ist, dann ist es effektiver, ein vorhandenes Modell der Stadt zu nehmen und die notwendigen Zahlenwerte zu ändern. Manchmal wird auch ein Subsystem der Stadt neu generiert und an ein vorhandenes mit geeigneter Verpointerung angeschlossen. Wenn das Modell sich jedoch in sehr erheblichem Maße von allen anderen, schon vorhandenen Modellen unterscheidet, dann wird ein völlig neues Modell allociert. Es ist dann unter dem Strich weniger aufwendig."
Dumpf kann ich mich erinnern, daß 'Verpointerung' irgend etwas mit Adressenverweisen in einem Computer zu tun hat. Wenn Rodrigo es auch nicht so genau weiß, dann läßt er sich es wenigstens kaum anmerken: "Hört sich logisch an," sagt er, "Dann sind, wegen der starken Variationen des Stadtmodells, vorübergehend viele völlig neue Stadtmodelle erzeugt worden?"
"Ja. Einerseits muß man schon sehr verschwenderisch mit dem Rechnerspeicher umgehen. So ein Modell ist schließlich viele Gigabyte groß. Andererseits darf man das auch. Speicher ist ja billig, und der Stadtcomputer hat sowieso genug davon. Andererseits ist das mit den dynamischen Datentypen so eine Sache. Wenn man dauernd welche erzeugt und wieder vernichtet, dann steht sehr viel Schrott im Speicher rum. Man kommt nicht umhin, irgendwann einmal eine Garbage-Collection in die Wege zu leiten. Wann das genau geschieht, darauf hat der Anwender wenig Einfluß, jedenfalls bei dem Programmiersystem, das wir verwendet haben. Den Zeitpunkt einer Garbage-Collection entscheidet das Runtime-System ziemlich selbstständig. Wenn man sowas vermeiden will, dann darf man eben nicht dauernd so gigantische dynamische Datenstrukturen wie das Stadtmodell verwenden und neu erzeugen. Aber in dem Punkt hatten wir ja keine Wahl."
So ungefähr verstehe ich, was er meint. Elementares Programmieren gehörte natürlich auch zu unserer Ausbildung, wenn das in der praktischen Tätigkeit einer Stadttechnikerin auch kaum vorkommt. Deshalb habe ich ja soviel wieder vergessen.
"Dann ist," nimmt Rodrigo den Faden auf, "einer der Algorithmen falsch? Denn so eine Garbage-Collection sollte doch für das Anwenderprogramm praktisch unsichtbar ablaufen?" Er hat mal programmiert, vermute ich. So gut kenne ich meine Kollegen nun auch wieder nicht.
"So ist es," sagt Miesner, "Gewissermaßen werden dem arbeitenden Programm die Datenobjekte unter dem Hintern verschoben und alle Adressenverweise auf den neuesten Stand gebracht. Das ist ein bißchen rechenaufwendig, aber das Ada-RTS kann das."
"Ada-RTS?" frage ich.
"Ada-Runtime-System. Das ist eine Bezeichnung aller Routinen - können Sie Ada?"
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